Mittwoch, 9. Februar 2011

Naturwissenschaften bleiben out

Der Wandel von Bildungsidealen
Von Eberhard Straub


Die Natur- und die technischen Wissenschaften, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen ungeahnten Aufschwung nahmen, erweiterten den Humanismus der idealistischen Philologen und Philosophen zu einem humanistischen Realismus.

Der humanistische Realismus gewann seine Überzeugungskraft aus den Möglichkeiten, Lebensnot und Siechtum zu mindern, den Lebensgenuss zu erhöhen, die Menschen besser, glücklicher und mit ihrem Geschick zufriedener zu machen. Darin lag seine gesellschaftliche Bedeutung.

Idealisten und Realisten blieben allerdings noch eine Zeit lang über das Gymnasium und die klassische Bildung miteinander verbunden. Deshalb erwies sich die Empfehlung des 1881 gestorbenen preußischen Ministerialrates Max Maria von Weber, Fachmann für Eisenbahnen, als gar nicht weltfremd: "Erzieht ganze Menschen, die in allgemeiner Bildung und Lebensform auf der Höhe des Völkerlebens und der zivilisierten Gesellschaft stehen und macht aus diesen Techniker". Der Sohn des Komponisten Carl Maria von Weber, ein Ingenieur und Bürokrat, suchte Verbesserungen für Züge und Gleisanlagen, musizierte, schrieb Novellen, beherrschte mehrere Sprachen und kannte sich in Europa aus. Kurz und gut: Er war ein ganzer Mensch.

Bei der zunehmenden Verwissenschaftlichung des gesamten gesellschaftlichen Lebens und der Wirtschaft konnte sich die freie Forschung nicht mehr selbstgenügsam wie Dr. Heinrich Faust darauf beschränken, möglichst zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Sie musste sich nach Zwecken richten, die aus der Wirtschaft oder der staatlichen Verwaltung kamen. Von Wissenschaft und Forschung hängt seitdem die ständige Selbstüberholung zur allerneuesten Neuzeit ab. Beide müssen für Innovationen sorgen, für Modernisierung und Fortschritt. Deshalb kümmert sich der Staat um die Ausbildung.

Keine Behörde kann freilich Einzelne oder Gruppen zwingen, ein bestimmtes Fach zu studieren. Ministerien können höchstens warnen oder empfehlen, wenn etwa die Neigung unter Abiturienten nachlässt, Naturwissenschaften zu studieren. Diese Unlust liegt nicht unbedingt an verspielten Launen oder einfach an der Trägheit bequem gewordener Jugendlicher. Der humanistische Realismus hat längst seine Überzeugungskraft eingebüßt. Denn die Wissenschaften verfügen über kein Natur- und Menschenbild mehr. Die Natur galt einmal als schöne und sinnvolle Ordnung, als Kosmos, wie sie noch Alexander von Humboldt beschrieb, die unabhängig von Gott betrachtet und erforscht werden kann. Sie lässt sich aber mittlerweile auch unabhängig vom Menschen betrachten, jenseits von dessen Freiheit und Würde, die manche für eine lästige Fiktion des Menschen halten, der sich einmal als Krone und Zweck der Schöpfung verstand.

Der Wissenschaftler ohne ein Natur- und Menschenbild muss sich auch gar nicht mehr verständlich machen. Es geht ihm vorzugsweise um Datenvermittlung und Information. Dafür reichen ein paar Zeichen und Signale. Naturwissenschaftler können es sich leisten, fast Analphabeten zu bleiben. Sie brauchen die Sprache nicht mehr und für ihre Formeln und Verkürzungen kein Publikum und keine Öffentlichkeit. Die Zuarbeiter der sogenannten Wissensgesellschaft wissen viel. Sie können aber nicht mehr sagen, was sie wissen, und haben meist keine Lust oder sind unfähig, zu erläutern, warum Wissensbestände um ihren Wert gebracht wurden durch ihre wissenswerten Neuigkeiten. Dafür müssen meist "Übersetzer" sorgen, also Wissenschaftsjournalisten oder Sachbuchautoren.

Die Naturwissenschaftler haben den Zusammenhang mit der Lebenskultur verloren, in der sie sich entfalten. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn sie ihre Anziehungskraft verlieren. Denn der Mensch nimmt sich weiterhin wichtig. Er ist dauernd mit sich selbst beschäftigt, weil er wissen will, warum er lebt und welches seine Stellung in der Welt als Natur und Geschichte ist. Da ihm Physiker und Chemiker darauf keine angemessene Antwort geben, sucht er bei Dichtern, Philosophen oder Theologen Auskünfte.

Auf dem Gymnasium lernte Werner Heisenberg Platons "Timaios" kennen. Von ihm lernte er prinzipielles Denken, wie man den Dingen auf den Grund geht. Das machte ihn zum Physiker. Der Weg des Geistes erwies sich als heilsam, und nicht als Umweg.


Eberhard Straub, Publizist und Buchautor, geboren 1940, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker war bis 1986 Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin. Buchveröffentlichungen u. a. "Die Wittelsbacher", "Drei letzte Kaiser", sowie "Das zerbrechliche Glück. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit" und "Zur Tyrannei der Werte".

(c) Deutschlandradio Kultur, Politisches Feuilleton

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