Freitag, 29. April 2011

Produktionsnotiz 0411.01

Als kleine Vorankündigung, mein Lieblingsmonat Mai wird recht stark von der Katholischen Kirche, ihrer Rolle in unserer Gesellschaft und argumentativ auch von der Kirchengeschichte geprägt sein.

Ich habe eine Reihe zusammengestellt, deren Texte sich noch aus dem Sterntagebuch rekrutieren. Ursprünglich war ich auf der Suche nach Bildern von Zen-Gärten und da landete ich mittels Google auf einem Webblog, oh mann!, was ich dort las riss mich regelrecht aus meinen Schuhen! Mein Kommentar darauf war auch eigentlich nur als kurzes abwertendes Statement geplant. Daher auch die etwas gelöste Wortwahl am Beginn des Textes. Normalerweise ist man ja als Kommentator um Sachlichkeit bemüht...

Das war im Oktober des letzten Jahres, später fand ich im Sterntagebuch den Kommentar eines alten Freundes. Er machte mich auf die stark subjektiven Aspekte aufmerksam, die auch ich für meinen Text genutzt habe.
Ursprünglich hielt ich den anschließenden Erläuterungstext für unnötig. Ich erwartete, dass der Leser mit Grundwissen zur Thematik schnell meinen Argumenten folgen könnte. Aber ich finde die vertiefenden Ausführungen gar nicht so schlecht. Zu mal sie mein erstes philosophisches Theorem, den amourösen Indikativ, enthalten. (Der Stil lässt noch zu Wünschen übrig.)

Die Texte werden in chronologischer Reihenfolge veröffentlich. Danken möchte ich schon an dieser Stelle meinem Freund Chris, der mir nachträglich noch ein sehr gutes Argument geliefert hat. Dies wird auch die einzige Änderung an den Texten sein, sie wird entsprechend gekennzeichnet.

AB 2. MAI, in wöchentlichem Abstand, die NEUE Reihe "In betenden Händen ist die Waffe sicher".


P.S. Mein Kommentar in dem Webblog wurde bereits gelöscht...

Sonntag, 24. April 2011

Aus der Osterpredigt vom Sonntag

Frag 100 Katholiken, was ist das wichtigste in der Katholischen Kirche? Sie werden antworten: "Die Messe". Frag 100 Katholiken, was ist das wichtigste in der Messe? Sie werden antworten: "Die Wandlung".
Sag dann 100 Katholiken, sie sollen sich wandeln - sie werden entsetzt sein!

Die Einleitung aus der Predigt zum Ostersonntag 2011.
Wolfgang Brummet, kath. Pfarrer.

Donnerstag, 21. April 2011

Opfertod in religiöser Tradition

Die Erlösung zu eigenem Heil?
Von Serdar Günes


Märtyrertum und Tod werden von uns negativ empfunden. Täglich führt uns das Fernsehen sinnlosen Tod vor Augen. Jeden Tag sterben Menschen einen gewaltsamen Tod. Durch Hunger oder Naturkatastrophen, Gewalt oder Selbstmordattentate. Es gibt also wahrlich keinen Grund, warum wir uns mit Opfer und Tod auseinandersetzen, darin etwas Positives sehen sollten. Aber ist das wirklich so?

Das Opfer kann ein Akt der Befreiung sein. Denn auch das zeigt uns das Fernsehen, jene anonymen Helden, die in einem Moment der Selbstaufgabe für den Erhalt des Lebens ihres hingeben oder zumindest riskieren: die tapferen Männer, die im atomverseuchten Kraftwerk Fukushima notwendige Reparaturen vornehmen, oder die vielen Ärzte und Entwicklungshelfer, die in Krisengebieten in ständiger Gefahr anderen Menschen Hilfe zukommen lassen.

Eine große Zahl dieser Menschen ist motiviert durch die Religion. Denn dieses Motiv gehört zur Substanz vieler Kulturen. An Ostern gedenken Christen in der ganzen Welt des Opfers Jesu. Sie erkennen die Barmherzigkeit und Wahrhaftigkeit in einem Akt der Erlösung für sie selbst. Sie beginnen zu begreifen, was es bedeutet, bereit zu sein, sich für etwas zu entscheiden und über die eigenen Grenzen hinausgehen. Daraus schöpfen viele Menschen die spirituelle Kraft für alltägliches Leben.

Obschon ich kein Christ, sondern ein Muslim bin, ist mir dieses Ostermotiv nicht fremd. Denn während heute Märtyrertum im Islam häufig als religiöser Fanatismus wahrgenommen wird, vergisst man gerne, dass es eigentlich ein Aufopfern für eine gute Sache bedeutet, die nicht unbedingt mit dem Tod enden muss, ihn aber immer vor Augen hat. In der Geschichte war das Militärische nur ein Aspekt des Märtyrertums, während die Läuterung der Seele, der uneigennützige Einsatz für die Familie und Umwelt den wahrhaften Kern dieses Gedankens ausmachen.

Dieser Grundgedanke hat im Islam verschiedene Formen des Märtyrertums und des Opfertodes hervorgebracht. Für die Schiiten ist die Schuhada, das Märtyrertum, ein wichtiger Kult, in dem das Gedenken an Husain, den Enkelsohn des Propheten Mohammed, der im Kampf fiel, eine große Rolle spielt. Ihre Trauer und Wut drücken sie einmal jährlich beim Aschura-Fest in Passionsspielen aus, indem sie sich selbst geißeln oder schlagen. Ist es ein Zufall, dass die schiitische Passion den christlichen Osterprozessionen in aller Welt zu ähneln scheint? Beide Traditionen wirken drastisch und manchmal Furcht einflößend, sind aber auch ein Fingerzeig auf etwas Allzumenschliches.

Märtyrertum und Aufopferung ist eine Haltung. Daher orientieren sich Muslime auch am Beispiel der christlichen Befreiungstheologie und entdecken im Islam ein Potenzial für Befreiung und Emanzipation, für die Beseitigung von sozialem und politischem Elend. So wie die Christen den Karfreitag nicht ohne den Ostersonntag sehen.

Als Muslim weiß ich auch, dass dies leider nicht die einzige Art ist, wie Menschen damit umgehen. Töten und Tod sind überall auf der Erde schon seit Langem gleichsam privatisiert worden. Sie wurden Selbstzweck und dabei jeder Reflexion und Menschlichkeit beraubt. Wenn sie jemals Mittel zum Zweck waren, dann ist dieser verloren gegangen.

In einem Akt der Gewalt glauben religiöse Fanatiker den Märtyrertod zu sterben, der viele Unschuldige aus dem Leben reißt. Sie glauben, so Gottes Wort umsetzen. Für mich hat diese Haltung nichts mit der Barmherzigkeit zu tun, die der Koran fordert. Sie drückt vielmehr eine Perversion der heiligen Botschaft aus, wie sie die Mehrheit der Muslime ablehnt. Ich kann keine Gemeinsamkeit mit solchen Fanatikern erkennen, die sich auch Muslime nennen, weil der Name nur die einzige Gemeinsamkeit ist.

Schon eher entdecke ich das "Gottes Wort" in dem Gedenken an den Opfertod Jesu und an die vielen Menschen heute in der Welt, die es ihm nachmachen. Dies ist wahrhaft islamischer als die tägliche Vergewaltigung der Menschenrechte durch Nationalisten und Fundamentalisten.

Serdar Günes, Islamwissenschaftler, geboren 1978 in Stuttgart, studierte Germanistik, Politikwissenschaft, Philosophie an den Universitäten Izmir und Stuttgart sowie in Tübingen Islamwissenschaft und Literatur. Seit 2007 ist er in Frankfurt wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Stiftungsprofessur Islamische Religion (Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam). Seine Forschungsschwerpunkte sind Koranexegese in der Moderne, Reformdenken im Islam, Islamophobie, Islamunterricht, Interkultureller Dialog, Islamische Seelsorge, Grenzfragen von Religion und Naturwissenschaft. Er schreibt im Blog serdargunes.wordpress.com.

(c) Deutschlandradio Kultur, Politisches Feuilleton [Funkfassung]

Mittwoch, 20. April 2011

Goodbye, Sarah Jane!

Heute Morgen schaute ich durch Zufall auf Wikipedias Startseite (was auch immer ich da wollte) und entdeckte den Namen Elisabeth Sladen unter den kürzlich verstorbenen. Schock! "Die Darstellerin von Sarah Jane Smith, gestorben... Unfassbar, so alt war sie doch noch gar nicht."

Im Radio kam dann folgende Kulturnachricht:

Britische Schauspielerin Elisabeth Sladen ist im Alter von 63 Jahren gestorben. Ihre bekannteste Rolle war die der Sarah Jane Smith in der Serie "Doctor Who". Die Science-Fiction-Reihe aus den 70er Jahren wurde in mehr als 50 Ländern ausgestrahlt. Zuletzt trat die britische Schauspielerin in ihrer eigenen Kinder-Show "The Sarah Jane Adventures" auf. Elisabeth Sladen starb nach Angaben der BBC gestern an einer Krebserkrankung.

Ich habe sie in der 2005 fortgesetzten Version von Doctor Who kennengelernt. Der britische Kult ist auch zu einer meiner liebsten TV-Serien geworden. In der Folge "Klassentreffen" begegnete die 10. Inkarnation des Doctors, gespielt von David Tennant, zusammen mit seiner Begleiterin Rose, einer alten Bekannten - der Enthüllungsjounalistin Sarah Jane Smith.
Sarah Jane war vor vielen Jahren selbst die Begleiterin des Doctors. Er lies seine langandauernste Freundschaft aber dann in Schottland zurück, zusammen mit dem Computer-Hund K-9.

Nach durchstandenem Abenteuer, erhält Sarah Jane die Gelegenheit, sich von ihre heimlichen Liebe - mittlerweile in neuem Anlitz - richtig zu verabschieden.
Dies war eine kurzweilige und sehr intime Geschichte. Und noch nicht die letzte, dem Doctor und Sarah Jane Smith sollten noch einige Wiedersehen bevorstehen.


Elisabeth Sladen †
1. Februar 1946 - 19. April 2011

Montag, 11. April 2011

Wenn aus humanitärer Intervention ein Krieg wird

Die bewaffnete Umsturzhilfe der Nato in Libyen
Von Reinhard Mutz


Robert Gates, der Verteidigungsminister, Michael Mullen, der ranghöchste Soldat, Tom Donilon und Denis McDonough, die Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrats, sind die militärischen Experten in Präsident Obamas Sicherheitskabinett. Einhellig warnten sie vor einer Verstrickung der USA in einen weiteren bewaffneten Konflikt mit ungewissem Ausgang. Eine Phalanx einflussreicher Frauen in hohen Regierungsämtern hielt dagegen: Außenministerin Hillary Clinton, UNO-Botschafterin Susan Rice und die Sicherheitsberaterin Samantha Power.

Ihre vorwiegend humanitäre und menschenrechtliche Argumentation gab den Ausschlag für den abrupten Schwenk der amerikanischen Libyenpolitik Mitte März. Jetzt gehen die internationalen Militäreinsätze in eine weitere Woche. Doch ein durchschlagender Erfolg, gar das Ende des Unternehmens zeichnet sich nicht ab.

Am Anfang hatte eine Schreckensnachricht gestanden: Gaddafi gehe mit Luftangriffen gegen friedliche Demonstranten vor. Oder in den Worten von Frau Rice: Er schlachtet sein eigenes Volk ab. Was daran stimmte, ist bis heute unklar. Das UNO-Generalsekretariat in New York, das Pentagon in Washington, sogar die westlichen Botschaften vor Ort in Tripolis, sie alle sahen sich außerstande, die Horrormeldungen zu bestätigen.

Umso deutlicher wurde sehr bald, dass der Schutz unschuldiger Zivilisten nicht das einzige Ziel der westlichen Kampfjets darstellt. Vor allem leisten sie bewaffnete Umsturzhilfe für die politisch genehmere der beiden Konfliktparteien im libyschen Stammes- und Bürgerkrieg. Dem widerspricht nicht notwendigerweise die jüngste Entscheidung Washingtons, die militärischen Kampfeinsätze den Verbündeten zu überlassen und sich selbst auf eine unterstützende Rolle zu beschränken.

Zum Markenzeichen amerikanischer Auslandsaktivitäten zählt seit längerem der verdeckte Kampf mit Spezialkräften. Ob nun ein militärischer Gegner geschwächt oder "befreundete" Gruppen unterstützt werden, stellt jeweils lediglich die Kehrseite derselben Idee dar. Ein Gebiet, das sich wie der Ostteil Libyens unter Kontrolle des ausersehenen regionalen Kooperationspartners befindet, bietet dafür sogar besonders günstige Voraussetzungen.

Allerdings lässt der einschlägige Libyen-Beschluss des UNO-Sicherheitsrats kein Schlupfloch für diese Form der Bündnishilfe zu. Die Resolution verbietet nicht nur die Lieferung von Waffen und militärischer Ausrüstung, sondern auch "die Bereitstellung technischer Hilfe, Ausbildung, finanzieller und anderer Hilfe im Zusammenhang mit militärischen Aktivitäten" - und zwar auf dem gesamten Territorium des Staates, also auch Lieferungen an die Aufständischen in Benghasi.

Unbeschadet der amerikanischen Kurskorrektur bestehen die Fragen nach der moralischen Rechtfertigung und der politischen Verantwortbarkeit der Angriffe aus der Luft fort. Dazu verweisen Befürworter der Einsätze gern auf das zeitgeschichtliche Vorbild des Kosovokriegs. Doch ehe die NATO ihr Kriegsziel erreicht sah, brauchte sie 78 Tage Dauerfeuer in 37.000 Lufteinsätzen mit Bomben und Raketen auf Straßen, Eisenbahnlinien, Brücken, Fabriken, Raffinerien, Rundfunksender - sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag.

Dass schließlich in der elften Kriegswoche der serbische Potentat die weiße Fahne hisste, leiht ihm noch nachträglich die Gloriole eines verantwortungsbewussten Staatsmanns. Denn "sonst hätte die NATO weitergebombt, seine Infrastruktur pulverisiert", wie ihr Oberbefehlshaber General Wesley Clark damals sagte. Das war das Kriegsbild, für das eigens ein neuer Name erfunden wurde: die humanitäre Intervention. Diesmal ist der Schauplatz das Land mit den größten Ölreserven Afrikas. Kein gutes Omen für die Menschen in Libyen.

Dr. Reinhard Mutz, Jahrgang 1938, studierte nach dem Militärdienst Politikwissenschaft, Soziologie und Neueren Geschichte, promovierte über Probleme der Analyse, Kritik und Kontrolle militärischer Macht und habilitierte sich über Konventionelle Rüstungskontrolle in Europa. 1966 bis 1984 arbeitete er am Institut für internationale Politik und Regionalstudien der Freien Universität Berlin, zuletzt als Assistenzprofessor. Von 1984 bis 2006 am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, zuletzt als Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor. Von 1992 bis 2008 war er Mitherausgeber des Jahresgutachtens der friedenswissenschaftlichen Forschungsinstitute in der Bundesrepublik. Seine Arbeitsgebiete sind Friedensforschung, Rüstungskontrolle, internationale Sicherheitspolitik.

(c) Deutschlandradio Kultur, Politisches Feuilleton [Funkfassung]

Freitag, 1. April 2011

Lese man(n) doch... - Die Rezension Nr. 2

»Mein Nachname war Salmon, also Lachs, wie der Fisch; Vorname Susie. Ich war vierzehn, als ich am 6. Dezember 1973 ermordet wurde. Auf Zeitungsfotos in den Siebzigern sahen die vermissten Mädchen meistens aus wie ich: hellhäutig und mit mausbraunen Haaren. Das war, bevor Bilder von Kindern aller Hautfarben und Geschlechter nach und nach auf Milchtüten und in der Tagespost auftauchten. Damals glaubten die Leute noch, so etwas geschehe einfach nicht. (...)
Mein Mörder war ein Mann aus unserer Nachbarschaft. Meiner Mutter gefielen seine Blumenrabatten, und mein Vater unterhielt sich mal mit ihm über Düngemittel. Mein Mörder glaubte an altmodische Zutaten wie Eierschalen und Kaffeesatz, die, wie er sagte, seine eigene Mutter schon benutzt hatte. Mein Vater kam lächelnd nach Hause und riss Witze darüber, dass der Garten des Mannes zwar wunderschön sein mochte, aber zum Himmel stinken würde, sobald eine Hitzewelle zuschlüge.«


Gelesen vor ein paar Jahren, in der Mitte des Sekundarstufe II, an einem brandenburgischen Gymnasium, hat mich das Buch eine lange Zeit nicht losgelassen.
Ursprünglich brachte mein Bruder In meinem Himmel mal für unsere Mutter mit. „Das wird dir bestimmt gefallen“, hatte er gesagt. Es gefiel wie nur wenige andere Bücher: Sie zog dieses Buch dem Fernseher vor, und während mein Vater und ich vor der Flimmerkiste hangen und (wahrscheinlich) einen Krimi schauten, saß sie nebenan und las, Seite um Seite.
Wir hatten dann unser eigenes Exemplar irgendwann in der Hausbibliothek, denn das andere Buch stammte von einem Bekannten meines Bruders. So saß dann auch ich Stunde um Stunde zuhause im Sessel und in der Schule auf den unbequemen Stühlen und verschlag in den Pausen ein Wort nach dem anderen.

Mit diesem Buch hatte ich meine erste Annäherung an das Thema Vergewaltigung. Und bei all der Tragik wurde mir gleichfalls eine wunderschöne Sicht auf das Leben gegeben:
Susie, gerade mal 14 Jahre jung, wird eines Tage von ihrem Nachbar entführt und auf einem Feld in einem versteckten Erdloch ermordet. Sie gelangt im Jenseits in 'ihren Himmel', fast wie eine in sich geschlossene Blase, welche aber an unzähligen anderen klebt, wie der Schaum in der Badewanne – und von dort aus beobachtet sie ihre Familie, die nun ohne sie zurecht kommen muss.

Alice Sebolds Geschichte beginnt mit einer ganz wunderbaren Idee: einem Monolog der Erzählerin. Sie erzählt mit den Worten eines Mädchens, das erst vor einiger Zeit in die Pubertät gekommen ist. Das die Kindheit gerade hinter sich lässt und die ersten guten Schritte in die Welt der Erwachsenen setzt.

„Mein Nachname war Salmon, also Lachs, wie der Fisch; Vorname Susie. Ich war vierzehn, als ich am 6. Dezember 1973 ermordet wurde.“ Diese Worten packten mich. Wie manch anderes Buch, was meine Mutter in den letzten Jahren packte, las ich vor ihr schon einige Seiten in dem Buch. Was an dem Zitat auffällt, ist, dass Susie von sich selbst in der Vergangenheit spricht. Man stutzt sofort, ob dieser merkwürdigen Wortwahl. Und kann nicht anders als weiterzulesen.

Susie erzählt von ihrem Himmel, ihrer Betreuerin, die ihr bei der Integration in das „Leben“ nach dem Tot hilft. Doch nicht nur von ihrem Himmel, sondern auch von den 20 Jahren, die vergehen müssen, bevor sich Susies Eltern, Geschwister und Freunde mit ihrem Schicksal abgefunden haben und die Erinnerung an das Mädchen und den Verlust verarbeitet haben.

Aber auch Susie selbst muss verarbeiten. Denn immer wieder wandert ihre Erzählung zu ihrem Mörder. (Auch die Gedanken und das Handeln ihres Vaters drehen sich all die Jahre besonders um ihn.)

Was von Susie blieb, war ihr Ellenbogen, den der Mörder unabsichtlich vergessen hat, nachdem er ihren Körper zerteilt hatte. Der Rest von ihr verschwindet auf einer Müllgrube, durch die Hände ihres Mörder-Nachbarn.

Auszusetzen habe ich eigentlich nichts an der Geschichte des Grubenkindes, denn die Autorin, die selbst einen 20 Jahre andauernden seelischen Heilungsprozess durchgemacht hat – aus eben fast den selben Gründen – beschreibt die Welt ihres Romans eindrucksvoll und vielfältig. Was mich damals aber zutiefst störte, war ein dramaturgischer Einfall von Frau Sebold, der die Poetry dieser Prosa zunichte macht. Im 22., dem vorvorletzten Kapitel gelingt es der Seele Susie Salmons mit ihrem (zu Lebzeiten) besten Freund zu schlafen. Vielleicht ist es meine starre Haltung, was allzu liberalen Umgang mit dem christlichen Jenseitsbild angeht...

Ganz egal, ob Christ, Atheist oder einfach Gelangweilter, dieses Buch ist lesenswert! (Noch mehr sogar, wenn man das vorvorletzte Kapitel einfach überspringt.) Genießen Sie die Erzählung, denken Sie über Susies Impulse nach, während Sie ihren Mörder in die Höllen wünschen.


Alice Sebold - In meinem Himmel (2003)
Titel der Originalausgabe: The Lovely Bones
Manhattan-Verlag (Goldmann Verlag, München)
Gebundene Ausgabe, 380 Seiten
ISBN: 3-442-54552-8

Projekt Aufklärung

Plädoyer für einen ehrlichen Umgang mit der DDR-Diktatur
Von Klaus Schroeder


Soviel Anerkennung wie derzeit genoss die DDR Zeit ihres Lebens nicht. Anders als nach 1945, als in der Bundesrepublik die Demokratie von einer breiten Mehrheit getragen wurde, weil die Schatten der NS-Vergangenheit verblasst waren, nimmt die Verklärung der sozialistischen Diktatur zu, je länger sie zurück liegt. Die heutige Demokratie dagegen gilt nur einer Minderheit der Ostdeutschen als verteidigenswert. Dies hat mehrere Gründe, offenkundige und tabuisierte.

Viele ehemalige DDR-Bürger loben ihren untergegangenen Staat, weil sie nach der Wiedervereinigung mit den neuen Verhältnissen nicht zu recht kommen, sich den Westdeutschen unterlegen fühlen oder fehlende Anerkennung für ihre Lebensleistungen beklagen. Wieder andere, vor allem junge Menschen, verklären den SED-Staat aufgrund mangelnder Kenntnisse.

In den Elternhäusern und Schulen wird ihnen viel über einen auf Banalitäten reduzierten Alltag und wenig über die diktatorischen Facetten und sozialen Realitäten berichtet wie etwa die gewaltigen Vermögensunterschiede, die bis zum Ende andauernde Mangelwirtschaft oder die kargen Renten. Die flächendeckende Umweltzerstörung findet ebenfalls kaum Erwähnung. Hinzu kommt Mitleid oder auch Nachsicht mit den Eltern und Großeltern, die aufgrund mangelnder Differenzierung zwischen System und Lebenswelt als Verlierer des Systemwettbewerbs dastehen.

Weitgehend ausgeklammert bleiben in öffentlichen und privaten Diskussionen individuelle Verstrickungen in das diktatorische System, die offenbar eine weitaus größere Dimension haben als bisher öffentlich bekannt. Die Verharmlosung der Diktatur dient insofern vielen auch als Schutz des eigenen damaligen Verhaltens. Individuelle Verantwortung wird mit Verweis auf gegebene Strukturen und Zwänge geleugnet oder bestritten.

Die aus dem Amt geschiedene Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, wurde nicht müde zu betonen, dass nur ein sehr geringer Teil der Ostdeutschen für die Stasi gespitzelt habe. Dies ist, wenn überhaupt, nur die halbe Wahrheit. In den über sie angelegten Akten finden viele Personen Informationen von Kollegen, Vorgesetzten, Bekannten oder Freunden, die nicht offiziell oder inoffiziell für die Stasi gearbeitet haben. Die Auskunftsfreude inklusive der damit verbundenen Denunziationsbereitschaft vieler Ostdeutscher war offenbar stärker ausgeprägt, als manche wahrhaben wollen. Dieser Personenkreis schadete den Bespitzelten oftmals stärker als die IMs.

Die freiwilligen Helfer der Grenzpolizei etwa haben fleißig dazu beigetragen, dass Fluchtwillige geschnappt, verurteilt und ihrer sozialen Existenz beraubt wurden. Freiwillige Helfer der Volkspolizei, Mitglieder von Hausgemeinschaftsleitungen und Abschnittsbevollmächtigte meldeten ebenfalls den "Sicherheitsorganen" Verdächtiges. Ganz zu schweigen von den vielen überzeugten Kommunisten, für die die Zusammenarbeit mit der Stasi selbstverständlich war.

Im Rahmen des so genannten politisch-operativen Zusammenwirkens arbeiteten viele staatliche Institutionen schon von Amts wegen mit der Stasi zusammen. Diese zwar bekannte Tatsache wurde bisher jedoch von der Stasi-Unterlagenbehörde nicht umfassend erforscht. Aus dem Blick geraten ist auch die dominante Rolle der SED, die Spitzelei und Unterdrückung anordnete und die Stasi lenkte und kontrollierte.

Gewiss, Aufklärung über die sozialistische Diktatur in einem umfassenden Sinn tut vielen weh, aber dennoch ist gerade diese Aufklärung Aufgabe des Birthler-Nachfolgers Roland Jahn, der dafür sorgen muss, dass die Stasi nicht isoliert, sondern als ein Teil des Herrschaftssystems der sozialistischen Diktatur gesehen wird. Stärker als bisher muss er zudem die Arbeit seiner Behörde mit anderen Institutionen, die sich der Aufarbeitung der sozialistischen Diktatur verschrieben haben, verzahnen. Die DDR darf weder als soziales Paradies noch als Stasi-Staat verklärt werden.

Klaus Schroeder, Sozialwissenschaftler, geboren 1949 in Lübeck, leitet an der Freien Universität Berlin den Forschungsverbund SED-Staat und die Arbeitsstelle Politik und Technik und ist Professor am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Letzte Veröffentlichungen: "Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990", Hanser-Verlag, München 1998; "Der Preis der Einheit. Eine Bilanz", Hanser-Verlag, München 2000; "Rechtsextremismus und Jugendgewalt in Deutschland. Ein Ost-West-Vergleich", Schöningh-Verlag, Paderborn 2004. "Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung", Verlag Ernst Vögel, Stamsried 2006. "Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern", zus. mit Monika Deutz-Schroeder, Verlag Ernst Vögel 2008, "Das neue Deutschland. Warum nicht zusammenwächst, was zusammengehört", wjs-Verlag 2010. "Die DDR. Geschichte und Strukturen", Reclam 2011.

(c) Deutschlandradio Kultur, Politisches Feuilleton [Funkfassung]