Montag, 17. März 2014

#2 Ein kleines Buch mit Ledereinband

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Wir sind gestern zu meiner Großmutter gefahren, so ein Besuch über ein verlängertes Wochenende. Himmelfahrt bietet sich dazu ja prima an! Diese Besuche fand ich in den letzten Jahren schon immer ziemlich langweilig. Die Eltern erzählen, mein Vater besucht einen alten Jugendfreund, meine Mutter hilf ihrer Schwiegermutter etwas im Haushalt - Kochen für fünf ist ja auch etwas umfangreicher, als Kochen für eins und plus Hund. Das Anschließen der Gartenpumpe nach dem Winter, wobei ich immer helfen muss. Hier, halt mal - etwas tiefer - das klappt so nicht - hol mal den Schraubenschlüssel - kommt Wasser? Die Prozedur ist jedes Jahr immer gleich und immer etwas anders. Dieses Jahr lief alles glatt, letztes Jahr ist ja der alte Gummiriemen gerissen. Man, das war ein Ärger, vier Läden hatten nicht das passende Material, der fünfte war seit zwei Wochen geschlossen und der sechste war zwanzig Kilometer entfernt. Irgendwann am Nachmittag hatte die Odyssee dann ein Ende.
Aber dieses Jahr ging alles glatt. Mit etwas verschmierten Händen verließ ich die alte Scheune und ging zurück ins Haus. Meine Oma hatte sich trotz top moderner Gasheizung für das vertraute fließend Kaltwasser aus der Leitung entschieden, ich wusch mir also meine Hände mit einem Klumpen uralter Kernseife, die wohl noch aus dem vorherigen Jahrhundert stammen musste, und trug dann meine neugewonnenen Eiszapfen hinauf in das Wohnzimmer, dann setzte ich mich auf den Sessel, der der Tür am dichtesten zugewandt stand und blickte mich in dem Zimmer um. Hinter mir hörte ich das vertraute Ticken der alten Kuckucksuhr an der Wand, den gleichmäßigen Rhythmus des Pendels im Uhrwerk und entspannte mich. Das Zimmer war von der Führlingssonne hell erleuchtet, mein Blick glitt die große, dunkle Schrankwand hinauf: ich sah den linken Lautsprecher des Plattspielers, ein Miniaturspinrad (nur zum Angucken!), eine weiße Porzellanlampe, die einer alten Gaslampe nachempfunden war, eine Holzschale mit hohem Fuß, ein kleines Holzfass süddeutscher Bemalung und den rechten Lautsprecher. Irgendwas fehlt doch da...
Ich erhob mich von dem Sessel und ging in die Küche, dabei begleitete mich das Klacken der beiden Kastenschlösser an den Türen, als ich sie öffnete und hinter mir wieder schloss. In der Küche fand ich zu erst niemanden vor, schaute dann aber um die Ecke und entdeckte, dass die schmale Tür zur Vorratskammer offen war.
"Oma, bist du hier?" rief ich.
"In der Kammer!" tönte es mit kräftiger Stimme zurück.
Ich trat in den Raum. "Du, Oma, du hattest doch mal auf der Schrankwand im Wohnzimmer so eine grüne Lampe zu stehen... ist die kaputt?"
"Nein. Die steht auf dem Dachboden. Die sah nicht mehr gut aus."
"Ah, verstehe!" gab ich zurück und blickte in die Kammer. Oma in Schürze über ihre Gläser- und Flaschesammlung gebeugt. "Brauchst du Hilfe", fragte ich?
"Ich suche nur den Essig." antwortete sie.
Ich trat näher, auf dem kleinen Schränkchen war kein Essig zu sehen. "Ist wohl alle."
"Ja, sieht so aus." sagte meine Oma, darauf griff sie zu einem Knauf an den Türen des Schränkchens und nahm eine neue Essigflasche heraus.
"Würde es dich stören, wenn ich mal nach der Lampe schaue? Sie passt vielleicht in meine Wohnung." fragte ich.
"Das olle Ding. Aber guck ruhig." erwiderte sie. Danach vertiefte sie sich wieder in ihre Arbeit.

Die Stiege zum Dachboden knarrte schon stark und mir war nicht ganz geheuer dabei, dass auch der Handlauf, am Fuß der Treppe, lose auf dem Sockel lag. Es ist halt ein altes Haus, sagte ich mir. Nach einem tiefen Atemzug griff ich zur Klappe, die den Weg noch versperrte, die Schaniere quietschten. Auch sie konnten etwas Pflege und viel Öl vertragen.
Auf dem Dachboden erwartete mich stickige und sehr warme Luft. Hier würde ich nicht lange bleiben. Ich schaute mich etwas um und fand eine alte Komode, die ihre besten Tage schon einige Jahre hinter sich zu haben schien, auf der "meine" Lampe stand. Sie war voller Staub und auch ein paar Spinnweben überzogen sie. Mit meinen Händen wischte ich die Spinnweben von der Lampe, dann an meine Hose und nahm die Lampe vor mich, vorsichtig pustete ich den Staub von der Lampe. Meine Erwartungen waren wohl doch zu hoch. Trotzdem stellte ich das Glasgebilde in die Nähe der Klappe. Von hier oben sah diese mehr aus wie eine Falltür. Ich drehte mich um und wollte gerade rückwärts die Stiege runter, als mein Blick auf etwas anderes fiel, das noch auf der Komode lag und ging drauf zu. Eindeutig ein verstaubtes kleines Buch mit Ledereinband. Abermals Staub pustend betrachtete ich es. Das fast schwarze Leder wirkte noch recht flexibel, nicht trocken und spröde. Als ich das Buch öffnete gab es sogleich den Blick auf seinen Titel frei: "Reisebericht der unmöglichen Erlebnisse", das war mit Tinte geschrieben und darunter stand in einer alten Handschrift von Anton Fabian. Das war mein Name!
Nicht ganz, denn ich hatte diesen Namen geerbt undzwar von meinem Urgroßvater. Hielt ich hier tatsächlich ein Tagebuch meines Urgroßvaters in der Hand? Mein Herz begann von innen wild gegen meinen Brustkorb zu hämmern und mein Puls schoss mir in die Halsschlagadern. Ich blätterte um und begann zu lesen...

9. Februar 1942 
Meine geliebte Anna,
es ist ein Wunder, dass ich noch am Leben bin. Am heutigen Nachmittage sollte meine Einheit in den zersörten Straßen Charkow weiter vorrücken und die sowjetischen Truppen zurückdrängen, die in den letzten Tagen deutlich an Gebiet Gewinn machen konnten. Der Krieg ist hier ist schrecklich, es wirkt wie ein Kampf um einzelne Häuser. Georg und Arnold wurden in den ersten Minuten von feindlichen Kugeln getroffen. Sie waren augenblicklich tot. Das kannst du dir nicht vorstellen. Wenn deine Kammeraden gerade noch neben dir stehen, das Gewehr im Anschlag und dann kippen sie einfach hinten um, wenn sie die Kugel trifft. Und du könntest jeden Moment der Nächste sein. Alle Übung, alle Disziplin hilft nichts. Es kommt der Augenblick, da stehst du einer Reihe von Todesengeln in sowjetischen Mänteln gegenüber  und dich erfasst nur noch die pure Angst! Die Hände zittern, der rußische Winterwind sitzt dir im Nacken. Du weißt, dass es gleich vorbei sein könnte! 
Leutnant Trompetter hat uns verboten, hinzusehen, wenn Kammeraden fallen, aber ich hatte keine Kraft mehr, mein Kopf drehte sich, einem Automatismus gleich, rechter Hand zur Seite und ich starrte auf die Leichen meiner beiden Kammeraden. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich mich abwenden konnte. Ich hob den Blick und wollte wieder nach vorn schauen, aber da sah ich rechts von mir einen blonden Mann. Er war in einen schwarzen Mantel gekleidet und stand in einer Häuserecke hinter unserer Linie. Er schien mir etwas mit Gesten deuten zu wollen und rief mir etwas zu, doch ich verstand kein Wort. Um mich herum war nur Lärm, Schüsse hallten durch die Straße. Wie kam der hier? Augenscheinlich ein Zivilist. 
Ich rief ihm zu, er solle in Deckung gehen und wollte mich wieder auf den Kampf konzentrieren, als mich der Mann auf einmal starr anblickte. Mir wurde ganz anders zu mute. Und dann legte sich der Mann auf den Boden, keine Sekunde den starren Blick von mir abgewandt. Ich bin ratlos, warum ich dem folgte, aber ich hängte mir das Gewehr um und folgte seinem Beispiel und legte mich gleichfalls auf den Boden. Hinter mir hörte ich, wie ein Soldat etwas zu mir schrie, ich hörte einzig seine Stimme, verstand aber auch seine Worte nicht. Dann gab es plötzlich eine unglaublichen Knall, eine Detonation, die Stoßwelle schoss über mich hinweg und spürte, wie sich die Hitze der Explosion über mir ausbreitete. Ich hob den Kopf. Der Mann war noch immer am Boden, aber er schien mir mit einer Hand zu zuwinken. Ich kroch zu ihm herüber, es war eine große Quälerei. Über mir die Hitze, unter mir Dreck, und Staub, Steine und Patronenhülsen, ich schob mich an meinen beiden toten Kameraden vorbei, ein neuerlicher Knall, die Stoßwelle, ich schob die Beine des zweiten toten Kameraden von mir weg und kroch weiter, irgendwann erreichte ich das Haus, in dessen Eingang der Mann in der Tür lag und mich anguckte. Hatte er überhaupt einmal geblinzelt? 
Er lächelte, als ich nicht mal mehr einen Meter von ihm entfernt war und sagte dann "Los, schnell!" und stieß sich mit den Händen hoch, kehrte um und lief eilends in das Gebäude. Ich tat es ihm gleich. Wir betraten einen zersörten Saal. Eine ausladende Treppe, sie musste geschätzt vierzig Stufen haben. Am Fuße der Treppe stand der Mann, daneben eine große, blaue Kiste, zu oberst leuchteten helle kleine Fenster... 

Was hatte ich da gerade gelesen? "...eine große, blaue Kiste mit leuchtenden Fenstern"? Mir entglitten sämtliche Gesichtszüge. Was hatte das zu bedeuten?
"Hier steckst, du! Anton, das Mittagessen ist fertig, komm." hörte ich die Stimme meines Vaters hinter mir und erschrak.

Sonntag, 2. März 2014

#1 Im Schnee

Comet (09.02.2010 - 18:21): Hey Chris, du willst doch immer wissen, was ich so träume. Was ich grad geträumt habe, das glaubst du nicht!
Also: Ich lag vor einer guten Stunde bei Karsten auf dem Bett und dämmerte so vor mich hin. Der Beerdigung meiner Tante wegen, hatte ich heute ja frei. Jedenfalls war ich gerade dabei, einzuschlafen, als ich von draußen ein ziemlich lautes Geräusch hörte. Es war fast wie eine Kreissäge, so ein hohes Kreischen und dann knallte es dreimal hintereinander, so als ob du gegen eine ziemlich große Mülltonne aus Metall schlagen würdest. Als dieses Knallen anfing, sprang ich vom Bett auf und lief zum Fenster gegenüber und schaute auf Berlins riesiges Stadtpanorama. In der Ferne der Skyline war nichts zu erkennen. Links auf der Straße, die am Haus vorbeiführte, auch nicht. Aber dann sah ich rechts von mir, auf dem großen Parkplatz, vor dem Supermarkt, ein kleines Licht immer wieder aufblitzen! Ganz hell. Und dann sah ich, wie sich eine Kiste darunter abzeichnete. Das Geräusch musste augenscheinlich von dieser Kiste stammen. Sie gewann mit jedem Rumsen mehr Substanz. Dreimal wie gesagt und dann war Schluss, das letzte dumpfe Knallen hallte aus.

Ich traute meinen Augen nicht! Auf dem verlassenen Parkplatz war scheinbar ein UFO, aus dem Nichts, aufgetaucht. Ich wollte zuerst meinen Blick gar nicht von dem Ding abwenden, beschloss dann aber doch, nach unten zu laufen und nach dem Rechten zu schauen. Also warf ich mir die dicke blaue Winterjacke über und schlüpfte in meine Schuhe, griff schnell nach Mütze und Schal, öffnete die Wohnungstür, riss den Schlüssel aus dem Schloss, und rannte zur Treppe. Hinter mir hörte ich die Tür laut ins Schloss fallen. (Zur Abwechslung war mal mir egal, was die Nachbarn nachher sagen würden...)

Ich stürmte aus dem Haus und wurde sofort von der Februarkälte und dem eisigen Schnee erfasst. Zum Glück waren die Gehwege gestreut. Ich bog um die Kurve, dann nochmal rechts und schlitterte über den schlecht geräumten Parkplatz zu dem blauen Ding. Direkt davor kam ich zum Stehen. Es hatte ungefähr die Größe eines Baustellentoilettenhäuschens, schien aber aus dunkelblau lackiertem Holz zu sein. Etwas über Augenhöhe strahlten mich zwei hellerleuchtete Milchglasfenster, mit ihrem weißen Licht, an. Die Türen, in die sie eingelassen waren, hatten unterhalb nochmal drei solcher Quadrate, aber nur fünf waren aus Holz. Die linke Tür hatte unter ihrem Fenster ein weißes Schild auf dem "Polizei Telefon", "Für den öffentlichen Gebrauch freigegeben" und "Zum Öffnen ziehen" in schwarzen Lettern stand. Okay, dann sprechen Außerirdische also Deutsch, na klar!, schloss es mir durch den Kopf. Ich fasste den kleinen, gebogenen Metallgriff und zog daran: nichts! Natürlich. Aber gleich rechts daneben war noch ein größerer Griff, gerade als ich nach diesem greifen wollte, ging diese Türhälfe mit einem dezenten Quietschen auf. Ich guckte in das Gesicht eines blonden Mannes. Weißes Hemd, grau gemusterte Krawatte am Kragen, ein schwarzer Wollmantel, dazu passend eine schwarze Anzughose und -schuhe. Ich musterte ihn einmal von oben nach unten und wieder rauf. (Ich muss ziemlich blöd aus der Wäsche geguckt haben!)
Auch er guckte mich massiv irritiert an und sagte "Oh, hi!".
"Äh, hallo!" erwiderte ich ihm. Er kam mir einen Schritt entgegen und fiel nach vorn in den Schnee. Einfach so, ganz flach nach vorn, ohne auch nur zu versuchen, sich abzufangen. Ich konnte ihm grad noch ausweichen.
Es dauerte einige Sekunden, bis ich wieder denken konnte, ging dann zu dem Mann auf die Knie und drehte ihn vorsichtig um. Er unterdrückte ein Stöhnen.
"Ist mit Ihnen alles in Ordnung?" fragte ich ihm.
"Nein. Was für eine blöde Frage..." gab der Blonde zurück und presste für einen Moment seine Augen zusammen. Er muss Anfang  dreißig gewesen sein.
Da hat er recht, dachte ich. "Kann ich...", begann ich. "Kann ich Ihnen irgendwie helfen?"
"Küss mich, ich sterbe sonst!" bekam ich zur Antwort.
"Was?"
Ein weiteres unterdrücktes Stöhnen, jetzt viel schmerzvoller. Ich wurde ängstlich und schaute mich um, ob irgend jemand in der Nähe war. Aber der Platz um mich herum war vollkommen leer. Nicht mal ein Auto fuhr über die nahe Straße.
Warum ich es machte, ich weiß es nicht, aber ich beugte mich nach vorn und drückte dem Mann meine Lippen auf seinen Mund. In der Sekunde spürte ich, wie mein Puls sich auf einmal aufbäumte und meine Lippen fast zum Bersten zubringen drohnte. Es war nicht unangenehm, eher, als ob ich das pure Leben fühlte und ich schloss meine Augen. Da hörte ich, wie eine fremde Stimme durch meinen Kopf schallte, "Wenn ich bloß wüsste, was er mir und sich damit antut!".
Ich riss sofort die Augen auf und schreckte in dem Moment von Karstens Couch hoch. Was war das? Ich stand auf, ging zum Fenster und schaute nach unten auf den Parkplatz vor dem Mietshaus, der in das orange Licht der Straßenlaternen getaucht war. Nur ein paar Flocken wehten im eisigen Wind des Winters.

Mysterio (09.02.2010 - 18:26): Ach, Anton, du guckst zu viele schlechte Serien!