Dienstag, 1. Februar 2011

Erst kommt das Fressen...

...dann kommt die Moral
Von Ulrich Woelk


Ein besserer Mensch werden - wer wollte das nicht! Immer wieder nehmen wir uns das vor, und immer wieder scheitern wir daran. Es ist ein Jammer. Wie gut also, dass es immer auch jene gibt, die moralisch auf dem Laufenden sind.

Sie helfen uns, unseren Wertekompass beständig neu zu justieren, wobei in jüngster Zeit allerdings eine unserer ältesten Gewohnheiten zunehmend zur moralischen No-Go-Area wird: unser Fleischkonsum.

Ob Showmaster, Autor, Schauspieler oder Feuilletonist - die Zahl derer, die für das fleischlose Leben die publizistische Werbetrommel rühren, wird von Tag zu Tag größer. Aktuelle Bücher zum Thema erklimmen mühelos die Bestseller-Listen, wie "Tiere essen" des US-Amerikaners Jonathan Safran Froer oder "Anständig essen" von Karin Duve, die gleich im ersten Satz beschließt, ein "besserer Mensch" zu werden, indem sie einen Karton mit der Aufschrift "Hähnchen-Grillpfanne" zurück ins Supermarkt-Regal legt.

Höchste Zeit also, einmal über die zivilisatorischen Wurzeln unseres Fleischkonsums nachzudenken und zu überlegen, ob es sich dabei tatsächlich um eine unserer üblichen postmodernen Verfehlungen, um einen weiteren unerträglichen Auswuchs der zunehmenden Fast-Foodisierung unseres Lebensstils handelt.

Das Domestizieren und Halten von Tieren geht auf eine Entwicklungsphase der Menschheit zurück, die von Anthropologen als neolithische Revolution bezeichnet wird. Stattgefunden hat sie vor etwa zwölftausend Jahren, und man darf in ihr getrost einen der bis heute größten Entwicklungssprünge der Menschheit sehen.

Aus Jägern und Sammlern wurden in anthropologisch kürzester Zeit Hirten und Landwirte - eine Entwicklung, die zur Grundlage dessen wurde, was wir heute unter Zivilisation verstehen: Die intensivierte Nahrungsmittelproduktion erlaubte höhere Bevölkerungsdichten, die schließlich in die ersten Stadt- und Hochkulturen mündeten. Handwerk und Handel ebenso wie Kunst, Wissenschaft und Dichtung erlebten durch die Möglichkeiten des schnellen Informationsaustauschs in den Städten eine ungeheure Blüte. Und es wurde ein Medium erfunden, mit dem sich die Informationsflüsse standardisieren und festhalten ließen: die Schrift.

Ob wir wollen oder nicht: Die Produktion und der Konsum von Fleisch gehören seit zwölftausend Jahren zu unserem kulturellen Erbe. Dies ist eine anthropologische Tatsache, die zu unserer mentalen und genetischen Grundausstattung gehört. Deswegen ist der Versuch, unsere Essgewohnheiten zum Sündenfall zu erklären so verfehlt.

Es hat immer Vegetarier gegeben, und in einer pluralen Gesellschaft sind sie allemal ein ganz selbstverständlicher Teil des vorhandenen Spektrums an Lebensstilen. Die individuellen Entscheidungskriterien zum fleischlosen Leben aber zur Grundlage einer Konsummoral für alle zu machen verströmt den Hautgout einer klassischen Ideologie, die dem Menschen einmal mehr vorschreiben möchte, was er zu tun und zu lassen hat, wenn er gut sein möchte. Bitte nicht schon wieder!

Wer die Zustände in der heutigen Massenfleischproduktion ändern möchte, wird dies am allerwenigsten erreichen, indem er den Menschen moralisches Versagen vorwirft. Schon Bertolt Brecht stellte einst fest: "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral." Man kann das Bedauern - ändern kann man es nicht.
Ändern kann man die Lebensumstände von Tieren in der Landwirtschaft. Dafür gibt es viele gute Gründe, wie die endlose Kette von Lebensmittelskandalen in den vergangenen Jahren zeigt. Das mühsame Erhöhen politischer Tierschutznormen ist rhetorisch vielleicht nicht besonders publikumswirksam, aber ist letztlich das Einzige, was nicht nur dem guten Gewissen des Redners dient, sondern auch dem Tier.

Höhere Standards in der Tierhaltung wirken sich unmittelbar auf den Preis von tierischen Produkten aus. Dieser steigt - und mit ihm das Qualitätsbewusstsein des Kunden. Mit einem teuren Produkt geht man bewusster um als mit einem billigen. Wer viel Geld ausgibt, achtet auf Qualität und prüft Alternativen - Ernährungsalternativen. So handeln Menschen. Mit schlecht, gut oder besser hat das überhaupt nichts zu tun.


Ulrich Woelk, geboren 1960 in Köln, studierte Physik in Tübingen und Berlin. Sein erster Roman, "Freigang", erschien 1990 im S. Fischer Verlag und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Seit 1995 lebt Ulrich Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Seine Romane und Essays sind unter anderem ins Chinesische, Französische, Englische und Polnische übersetzt. Zuletzt erschien "Joana Mandelbrot und ich".

(c) Deutschlandradio Kultur, Politisches Feuilleton

1 Kommentar:

Shenzhou hat gesagt…

Bald eine No-Go-Area: Die Fleischtheke im Supermarkt (Bild: Jan-Martin Altgeld)

[Das Bild in meinem Sterntagebuch ist besser!]