Samstag, 24. Mai 2014

#3 Der Fixpunkt


Diesen seltsamen Traum, in dem mir ein Mann begegnete, der plötzlich auf einem Supermarktparkplatz auftauchte, scheinbar krank oder verletzt war und mich bat, ihn zu küssen, weil er sonst stürbe, habe ich nie so ganz vergessen, aber es war schon eine sehr fantastische Sache. Beeindruckend, was mein Unterbewusstsein so alles schaffen kann. Das war schon eine sehr surreale Geschichte. Und ich hatte ihn fast (nur fast) vergessen, den Traum mit dem Mann und seiner blauen Kiste. Umso verwirrter war ich, als ich da gerade dieses Tagebuch meines Urgroßvaters in der Hand hielt und gleich im ersten Eintrag berichtete er ebenfalls von einer solchen Begegnung. Mein, vom Tode bedrohter, Vorfahre trifft diesen blonden Mann, seinen Lebensretter,  – von dem ich real noch nie zuvor etwas gehört hatte, von dem ich dachte, er sei mein Hirngespinst – und wird scheinbar von ihm… gerettet. Wie seltsam. 
Davon wusste aber mein Vater nichts: „Du bist dreiundzwanzig und noch immer so schreckhaft, wie mit zehn Jahren. Was machst du hier oben überhaupt?“
„Ich... ich…“ stotterte ich und versuchte das Lederbuch in meine Gesäßtasche zu zwängen, während ich mich zu meinem Vater umdrehte. „Ich hab nur nach einer Lampe gesucht. Die grüne, die Oma mal im Wohnzimmer hatte.“
„Und du bist fündig geworden?“ fragte mein Vater rhetorisch und griff die Lampe, die zu seinen Füßen stand.
Ich nickte.
„Dann lass uns mal essen gehen. Die anderen warten schon!“
„Wäre wohl besser.“ Ich lächelte.

Das Mittagessen wollte nicht zu Ende gehen. Ich weiß gar nicht mehr, was meine Großmutter gekocht hatte, aber ich vermute, irgendetwas scharfes mit Fleisch. Eigentlich aß ich dieses Gericht sehr gern, wenn ich auch seinen Namen nicht kannte. Heute hatte ich aber keinen richtigen Hunger. Das Tagebuch nahm viel zu viel von meinen Gedanken in Anspruch. Also lud ich mir eine etwas größere Alibiportion auf meinen Teller und konnte mir so den Nachschlag sparen, und es wunderte sich auch niemanden, dass ich mit dem Essen nicht so recht vorwärts kam, ich war ja immer gemächlich dabei. Nach einer Ewigkeit brachte meine Großmutter denn ihren Lieblingssatz „Nun mach aber mal ein bisschen hinne!“, und ließ damit erkennen, dass es endlich den Nachtisch geben würde. Super, und dann kann ich gleich in mein Zimmer, dachte ich.
Während sich die anderen, nach dem Abräumen, ins Wohnzimmer zurückzogen, meinte ich, dass ich mich für einen kleinen Mittagschlaf zurückziehen wolle. Vom Schuhschrank im Flur nahm ich Lampe und trug sie die Treppe wieder hinauf, ging damit in mein Gästezimmer und schloss die Tür hinter mir. Nachdem ich die Lampe abgestellt hatte, zog ich das schwarze Tagebuch aus meiner Hosentasche und legte mich damit bäuchlings auf das Bett.
Irgendetwas stimmte mit dem Buch nicht. Ich strich über die sanfte, wellige Struktur des Einbands. Soweit ich wusste, war mein Urgroßvater „nie aus dem Krieg zurückkehrt“, wie man so schön sagt. Wie kam dann der Dachboden im Haus seines Sohnes und seiner Schwiegertochter in den Besitz seines Reisetagebuches? War es nach der offiziellen Vermisstenmeldung durch die Wehrmacht den Hinterbliebenen überstellt worden? Oder hatte mein Großvater einst Heimaturlaub vom Krieg und dabei dieses Tagebuch hier zurückgelassen – oder es gar vergessen? Überhaupt, was hatte es mit dem Mann und der Kiste auf sich? Es war doch nur ein Traum!
Ich beschloss, meinen Großvater bis auf weiteres für einen Hobbyschriftsteller zu halten und schlug das Tagebuch wieder auf. Denn eine Frage war noch brennenderer, als alle zuvor gestellten: Wie würde es mit meinem Großvater, dem schwarz gekleideten Mann und dieser blauen Kiste weitergehen?


Diese Kiste war ein höchst seltsamer Anblick! Und auch der blonde Mann. Sie schienen mir beide, als gehörten sie nicht hierher. Taten sie auch nicht. Wer gehört schon in einen Krieg? Ich nicht. Du nicht. Unsere Kinder nicht. Kein Mensch gehört in einen Krieg, in diesen Wahnsinn der Vernichtung!
Ich riß mich aus meinen Gedanken und starrte wieder die blaue Kiste an. Sie war größer als ein erwachsener Mann, das Dach lief nach oben hin spitz zu, es setzte die vier Seiten fort, auf der Spitze thronte eine Laterne, auch sie war erleuchtet. Ihr Licht strahlte aber nicht so stark, wie das der Fenster mit Milchglas. Unter dem Dach war eine Leiste angebracht, wie ein Türsturz. Es gab darauf einen Schriftzug, weiße Lettern auf schwarzem Grund: Notrufzelle. Vor dem Krieg hatte ich davon im Radio gehört: Die British Broadcast Company sprach davon, wie eine Bande von Taschendieben in der Londoner Innenstadt schnell dingfest gemacht werden konnten, weil die Polizei überall kleine Häuschen aufgestellt hatten. Oft in Verbindung mit Fernmeldeapparaten. Aber wie kam so eine Notrufzelle hierher?, ich war in der Sowjetunion. Das lag fast zweitausend Kilometer von England entfernt…
  Ich wandte meinen Blick auf den Mann im schwarzen Anzug, der noch immer rechter Hand neben der Notrufzelle stand und mich beobachtete. „Wer sind Sie?“ fragte ich ihn.
„Oh, ich bin ein Doktor“ bekam ich zur Antwort.
„Ein Doktor?“
„Ja, Doktor van Wer.“ Der Mann lächelte und reichte mir seine Hand. Ich ergriff sie und wir schüttelten uns die Hände zur Begrüßung. Was für ein Händedruck!
„Sie kommen also aus Holland?“
„Nicht ganz, aber ich war schon einmal dort, wenn Sie so wollen.“ Immer noch lächelte er. Von draußen war eine große Explosion zu hören und etwas Putz bröckelte von der Zimmerdecke des Saals, in dem wir standen.
„…wenn ich so will. Aha. Und diese Kiste?“
Noch eine Explosion.
„Das ist mein Schiff und wir sollten da jetzt reingehen. Es wird wirklich Zeit!“ sagte er und seine Stimme bekam einen dringlichen Unterton.
„Ich glaube nicht, daß das…“ begann ich. Doktor van Wer nestelte an dem Schloß der rechten Türhälfte und öffnete sie nach innen. Dann ergriff er meinen Arm und zog mich hinter sich ins Innere. Die Tür fiel wieder zu.
Hier war es fast völlig dunkel, nur etwas Licht fiel von den kleinen Lampen am oberen Rand des Türrahmens auf den pechschwarzen Boden. Ich begriff nicht, was dieser Mann vorhatte, in mir stiegen Unsicherheit, Panik und ein Gefühl der Beklemmung auf. Um mich herum hörte ich ein sehr leises Summen, es klang sehr mechanisch. Zwischen dem Doktor und mir erahnte ich eine hüfthohe Säule, eine sechseckige Grundform hatte sie und verbreiterte sich an ihrem obersten Ende wohl etwas. Der Doktor machte sich daran zu schaffen.
„Also, wohin soll die Reise gehen?“ fragte er mich dann.
Träumte ich? Nein, ich war ganz wach. Dieser Doktor mußte verrückt geworden sein, der Krieg hatte ihm den Verstand geraubt.
„Werter Herr, ich glaube Sie mißverstehen die Lage!“ versetzte ich.
„Ganz und gar nicht. Oh, verzeihen Sie, Sie haben ja noch gar keine Ahnung! Nun, mal sehen, wir befinden uns im zweiten Weltkrieg, in einem Land, das in ein paar Jahren als die Ukraine bekannt sein wird und Sie, mein Guter, sind ein Soldat, deßen Zukunft gerade in Flammen aufgeht – ich denke, das späte 20. Jahrhundert dürfte etwas für Sie sein! Genauer gesagt, der Tag, an dem die Berliner Mauer fiel.“
In Berlin? In Berlin gibt es doch gar keine Mauer! Was soll das bedeuten?“ Die Panik ergriff mich nun vollends. „Laßen Sie mich sofort wieder hier raus!“ forderte ich. Ich drehte mich zu der Doppeltür um und faßte den Türgriff. Als ich daran zog, rührte sich nichts. Ich begann fester daran zu rütteln. Ich musterte die Tür von oben bis unten, auf dieser Seite des Häuschens war sie weiß angestrichen. Nochmals ein Rütteln, aber die Tür blieb verschloßen.
„Das ist zwecklos. Und wir müßen jetzt hier auch wirklich weg, sonst sterben Sie heute wirklich noch – und ich gleich mit!“
Daraufhin hörte ich ein Geräusch wie von einem dumpfen Aufschlag auf einen hohlen Gegenstand. Die Holzwände dieser Kiste schienen den Kriegslärm draußen, auf der Straße, zu dämpfen. Die Detonationen der Bomben und Panzergeschoße,  das Brummen der Flugzeugmotoren und das Sirren der Bomben, sie sich nach dem Abwurf noch im freien Fall befanden. Der Hall ging in ein metallisches Kreischen über, es kam einem Atmen gleich, dieses Geräusch schwoll immer wieder an und ab. Es schien aus den Tiefen der Dunkelheit des Notrufhäuschens zu kommen und unter meinen Stiefeln spürte ich eine sehr leichte Erschütterung, im gleichen Takt, wie das Geräusch.
„Was geschieht hier?“ rief ich.
„Wir verlaßen Charkow. Kommen Sie zu mir.“ sagte Doktor van Wer.
Es widerstrebte mir vollkommen, mich diesem verrückten Mann auch nur einen weiteren Schritt zu nähern, alles, was ich wollte, war diese Holzkiste wieder zu verlaßen und schleunigst meine Einheit wiederzufinden – ehe ich wegen Fahnenflucht gesucht und durch ein Standgericht augenblicklich erschoßen würde. Oder noch schlimmer: In rußische Gefangenschaft gerate! Dieser Mann war eine größere Gefahr für mein Leben, als der Krieg, der um mich herum tobte. Von meinen Schultern ließ ich das Gewehr gleiten, und zielte auf den Mann, dann forderte ich laut: „Laßen Sie mich endlich aus dieser Kiste, dann können Sie überall hingehen, wohin auch immer Sie meinen, gehen zu müßen.“
„Das ist nicht mehr möglich, fürchte ich. Wir haben Charkow und das Jahr 1942 bereits verlaßen und werden in den nächsten Minuten in Berlin eintreffen. Bitte, verstehen Sie –“ sagte er und griff zur Kuppel der Säule vor ihm, im nächsten Augenblick verwischte das Dunkel um uns herum und wurde von einen Strom roter Wolken durchzogen. Es waren eigenartige Wolken, mehr wie Nebelschwaden, die in unterschiedlichen Rottönen an uns vorbeiwaberten – mal oben, dann an einer Seite, wieder oben, an der anderen Seite, ich sah den Nebel auch zu meinen Füßen, aber es schien, als ob er mich nicht berührte. Ich hatte den Eindruck, ich stünde auf Glas und darunter verbarg sich der Nebel. Alles in allem wirkte es wie ein Tunnel. Ich trat ein paarmal auf den durchsichtigen Boden zu meinen Füßen.
„Doktor?“ ich hörte meine panische Stimme. „Was geht hier vor?“
„Keine Angst. Was Sie gerade sehen, wird Zeitwirbel genannt. Wir befinden uns in einem Schiff, das die Fähigkeit besitzt, durch Raum und Zeit zu reisen. Ich selbst gehöre einem Volk an, das dies bereits seit Jahrtausenden macht.“ 
Fantastisch! Das war wirklich ausgemachter Blödsinn.  So etwas gab es nur in utopischen Büchern. Wo mochte dieser Kerl ausgebrochen sein?
Andererseits schwebte ich durch einen Wolkentunnel, der fliegende Holländer mir gegenüber. Ist Wahnsinn ansteckend? Doch sah ich dies alles mit meinen eigenen wachen Augen. Was hier Unmögliches geschah, entzog sich meinem Verstand.
„Sie meinen eine richtige, waschechte Zeitreise? Mit einer Zeitmaschine? So wie die von H.G. Wells?“ Ich glaube, ich wurde ein bißchen hysterisch.
„Wells… Nun nicht ganz.“ Doktor van Wer tippte sich mit einem Finger gegen die Schläfe. Dann sagte er nachdenklich: „Es ist hier etwas komplizierter: es geht um die Zeit, den Raum und um Gravitation, also um die Anziehungskraft. Wenn also die Zeit und der Raum, bei einer Nullpunktmarke miteinander in Beziehung gesetzt werden, um… Kommen Sie noch mit?“ fragte er, mich anschauend.
In dem Augenblick bemerkte ich meinen fragenden Blick selbst.
„Was – oh, ja, natürlich“, sagte ich schnell und schob noch eine weitere Frage hinterher, um meine Unsicherheit und meine Angst zurückzudrängen: „Von welchem Volk haben Sie da gerade gesprochen, Doktor? Mir ist kein Land bekannt, in dem es so etwas überragendes nicht nur Traum geben könnte.“
„Wir nennen uns Herren der Zeit. Wir sind ein sehr altes Volk, beheimatet in den Tiefen dieser Galaxie.
„Herren der Zeit? Und von einem anderen Planet – ja, Sie müßen weit mehr sein, als ein Uhrmacher.“ überlegte ich.
„Ganz recht, denn wir machen keine Instrumente, um die Zeit aufzuschreiben. Wir bereisen die verschiedensten Welten und  manchmal beeinflußen wir historische Ereigniße, in dem wir helfen, oder in dem wir einzelne Aspekte neu anordnen.
„Und so ein historisches Ereignis bin ich?“
„Ganz recht. Das heißt…“, er zog eine silberne Taschenuhr aus der linken Seitentasche seines Jacketts, ließ sie aufspringen und schaute auf das Ziffernblatt, „…jetzt sind Sie es. Von Ihrer Einheit wird keiner überleben und es hat keiner überlebt. Sie selbst werden für vermißt erklärt.“ gab Doktor van Wer mir zur Antwort.
„Ich bedaure, ich verstehe es nicht.“
„Es gibt Momente in der Zeit, die vom Kern her genau so ablaufen müßen, wie sie sind. Nicht unbedingt ist also Ihr Verschwinden wichtig für die weitere Entwicklung, sondern einfach, daß Sie nicht mehr da sind. Somit wird das Leben Ihrer Familie ohne Sie weitergehen.“
Ich kniff die Augen zusammen und versuchte zu verstehen, was mir Doktor van Wer vermitteln wollte: „Sie haben mich also gerettet, oder entführt?“ 
„Nehmen wir es genau, dann habe ich Sie entführt. Glücklicherweise ist das Gefüge von Raum und Zeit nicht ganz so nachtragend, wie ihr Menschen.“ Ein schelmisches Grinsen umspielte den Mund des Doktors.
„Und wenn ich zurück zu meiner Familie will? Ich habe eine Frau und einen Sohn!“ Ich bemühte mich, so dringlich zu klingen, wie es irgend nur ging.
„Dann würden Sie unweigerlich sterben. Ich könnte Sie nur an einem einzigen Punkt in Ihrer Zeitlinie absetzen: In Charkow, am 9. Februar des Jahres 1942. Verstehen Sie, dieser Tag wäre Ihr Todestag. Das ist ein Fixpunkt, daran läßt sich nichts ändern. Weil es so sein muß!“ Doktor van Wer blickte mich nun durch durchdringend an. „Sie mit mir zu nehmen, war die einzige Möglichkeit, daß Sie weiterleben können!“ schloß er.
Ich begann innerlich zu beben und, meine Knie wurden weich und jeder einzelne meiner Muskeln zitterte. Doktor van Wer trat einen Schritt dichter an mich heran, hob einen Arm und faßte mich an meinem linken Arm. Gerade noch wollte mich meine ganze Angst und meine ganze Verzweiflung übermannen, als mich in diesem Moment eine Welle der inneren Ruhe durchströmte. Ich glaube, daß sie sich von meinem Arm ausbreitete. 


Ich wurde von einem Klopfen an der Tür jäh beim Lesen unterbrochen und schaffte es gerade noch so, das Buch unter dem Kopfkissen zu verstecken, als mein Vater die Tür öffnete, um mich für den Nachmittagskaffee und den Kuchen abzuholen. 
Ach Mist! Also, auf zur nächsten Familienrunde!