Freitag, 24. Dezember 2010

Zur Besinnung kommen

Gedanken zu Hannah Arendts "Vita activa"
Von Konstantin Sakkas


Bei Hannah Arendt geht es um die Zustreuung des Menschen. Ständig verausgabt er sich, ständig will er etwas erreichen, ständig ist er in Bewegung. Doch gerade diese postmoderne Hyperaktivität, das stetige Über-sich-hinaus-wollen, entfremdet den Menschen von sich selbst. Kommen wir also zu uns.

Besinnung beginnt mit der Frage: Was ist wirklich notwendig? Das moderne Denken argumentiert stets mit Notwendigkeit, und zwar insbesondere da, wo sie gar nicht vorliegt. Wenn wir uns also besinnen sollen und wollen, dann müssen wir feststellen, was wir "brauchen": und zwar materiell und emotional. Die Hysterie einer Gesellschaft, die zwar existenziell weitgehend befriedigt ist, aber dennoch nicht ohne eine ausgeklügelte Kultur von Stress, Verunsicherung und Zuspitzung auskommt, erklärt sich aus falschen Bedürfnissen, von denen wir uns einbilden, wir hätten sie wirklich.

Solche falschen Bedürfnisse zeigen sich an unserem überzogenen Konsum von Lebensmitteln; an unserer durch eine hysterische Wirtschaftsordnung begründeten, aber eigentlich irrationalen Furcht vor finanzieller Verarmung; oder an dem Kult, der in unserer Gesellschaft um die Partnerschaft getrieben wird. Denn in Wahrheit weiß doch jeder, dass wir unnötig viel essen; dass Geld zum realen Warenangebot und Warenwert oft in keinem Verhältnis steht; und dass die meisten Bekanntschaften und Beziehungen, mögen sie auch körperlich intim sein, für viele oberflächlich, ja belastend geworden sind. Aber die Angst vor der Einsamkeit; die Furcht davor, die Zeit mit sich selbst zu verbringen und die Unfähigkeit, sich in sich selbst zurückzuziehen, sind heute Massenphänomene.

Besinnung auf das Notwendige führt zugleich zur Besinnung auf einen vergessenen Grundwert unserer Zivilisation: die Ruhe. Die Ruhe steht ursprünglich im Zentrum des Christentums und der Christologie. Der Kirchenlehrer Augustinus etwa stellte sich das Leben im Paradies vor wie einen "ewigen Sabbat", also einen ewigen Ruhetag. Heute spricht man zwar lieber von "Frieden" als von "Ruhe"; doch die Friedensbotschaft, die zu Weihnachten routiniert verkündet wird, meint nicht nur den äußeren, politischen Frieden; sondern vielmehr den inneren Frieden, also die Ruhe, die wir alltäglich durch sinnlose, unüberlegte und triebhafte Begehrlichkeiten gefährden und ruinieren. Ein nervöses Karrierepathos durchzittert unser berufliches wie privates Leben.

Deshalb ist die Warnung Hannah Arendts vor einer Gesellschaft auf dem Karrieretrip auch nach einem halben Jahrhundert aktuell - vielleicht mehr denn je. Vor lauter erfundenen und vorgeschobenen Zwecken droht der Mensch des Westens sein eigentliches Ziel aus dem Bewusstsein zu verlieren: die Ruhe, den sprichwörtlichen himmlischen Frieden, der ihn erst zu verantwortungsvollem Handeln befähigt, weil er in diesem Ruhe-Zustand nicht mehr verführbar ist für jene geheuchelten Notwendigkeiten, die ihn zur Zerstörung seiner physischen, sozialen und emotionalen Umwelt veranlassen.

Als Leitspruch für unsere Zeit empfiehlt sich kein Bibelvers, sondern das Wort eines Nicht-Christen, Scipios des Jüngeren, mit dem auch Hannah Arendt ihr Buch beschließt: "Niemals ist man tätiger, als wenn man dem äußeren Anschein nach nichts tut, niemals ist man weniger allein, als wenn man in der Einsamkeit mit sich allein ist."


Konstantin Sakkas, freier Autor, Jahrgang 1982, schloss 2009 das Studium in den Fächern Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin ab. Er arbeitet seit mehreren Jahren als freier Autor für Presse und Rundfunk.

(c) Deutschlandradio Kultur, Politisches Feuilleton