Samstag, 20. Oktober 2007

Die Mitte der Welt

Glass umklammerte den Baumstamm, warf den Kopf in den Nacken und schrie auf. Undeutlich nahm sie wahr, dass jemand aus dem Haus gelaufen kam, eine junge Frau mit langen Haaren, in der Dunkelheit von dumpfem Rot, eine Farbe, die Stellas Haar nie besessen hatte. Und Glass' nächster Schrei galt nicht dem winzigen Mädchen, das sich beinahe mühelos zwischen ihren Beinen in die Welt drängte, sondern den aufgeregten Worten dieser jungen Frau, denn Stella war tot, sie war tot, war tot, und es gab keine Möglichkeit, hier und jetzt eine Hebamme zu Hilfe zu rufen, denn die Telefonrechnungen waren seit langem nicht beglichen worden, die Leitung abgestellt. Also hastete die junge Frau zurück ins Haus und kam mit Decken wieder, in die sie das Mädchen bettete, während Glass sich weiterhin gegen den Baum stützte, wo sie so lange presste und keuchte und schrie, bis ein erster Sonnenstrahl den Horizont berührte und endlich auch der Junge, um so vieles widerwilliger als seine Zwillingsschwester, ihren Körper verließ.
So wurden Dianne und ich geboren: Nassen, kleinen Tieren gleich fielen wir auf verkrusteten Schnee, und dort wurden wir aufgehoben von Tereza, die uns fortan Freundin und Begleiterin sein sollte, Ratgeberin und zweite Mutter. Es war auch Tereza, die mir später Paleiko schenken sollte, den launischen Puppenmann aus schwarzem Porzellan.
Er ist etwas ganz Besonderes, Phil. Manchmal wird er mit dir sprechen und dir Fragen beantworten.
Warum heißt er so?
Das ist ein Geheimnis.

Doch das war viele Jahre später, an einem warmen Sommertag, als keiner von uns an Schnee und Eis dachte. Glass, obwohl sie es besser wissen müsste, besteht noch heute darauf, jener weit zurückliegende Morgen sei ein magischer Moment gewesen, da sich zum Zeitpunkt von Diannes und meiner Geburt der Tag von der Nacht und der Winter vom Frühling trennte. Tatsache aber ist, dass erst drei Tage nachdem Dianne und ich das Licht der Welt erblickt hatten, ein warmer, föhnartiger Wind aufkam. Er schmolz den letzten Schnee, er verwandelte Visibles Garten in ein Meer aus farbenprächtigen Krokussen und schwankenden weißen Schneeglöckchen, und er hielt eine ganze Woche lang an.


Wieder ein Buch, in dessen Autor ich einen mir verwandten Intellekt sehe. In seinem Erzählstil erkenne ich mich wieder. Es ist nur ein Abbild der poetischen Ausdrucksweise und -kraft, die Mason und Süskind innewohnen. Es ist ganz deutlich das Bestreben zu spüren, in die Tiefe der Poetry einzudringen, doch man schafft die Schwelle nicht zu überqueren.
Gerade habe ich noch im ersten Kapitel der dritten Teils der Geschichte gelesen, als mir gewahr wurde, was mein Namenvetter da gerade geschrieben hatte: eine Szenerie, in der der Hauptakteur, mit Namen Phil, mitansehen muss, wie sein Freund und seine beste Freundin es miteinander treiben. Er zieht sich vor Schrecken zurück, macht auf Grippe und führt ein kurzweiliges und tiefes Gespräch mit seiner wirklich wunderbaren Mutter Glass.
Das alles gibt mir einen Einblick in meine noch anstehende Arbeit an der Trennung Jorians von Eric (sprich: "Erique", also französisch). Ich sehe, was alles beachtet werden muss. - Wobei Jorians Beweggründe andere sind, als ein Seitensprung...

Traurig aber wahr, ich muss jetzt erstmal raus in den herbstlichen Garten, doch werde ich mich mit meiner Arbeit beeilen, damit ich so schnell wie möglich wieder in der Mitte der Welt versinken kann. Mögen bestimmte Bücher auch noch so schön sein, ich freue mich auf das Ende.

5. November: Habe das Buch noch am selben Wochenende zu ende gelesen. Zwar sprach der Autor im Nachwort davon, dass das es Ende für die allermeisten Lesen unbefriedgend wäre und man doch an diesem Punkt erst recht wissen wolle, wie es weiter geht, aber ich gebe da meinem Namensvetter ganz recht, es ist auch sehr interessant, Phils weitere Geschichte der eigenen Fantasie zu überlassen.
Doch worum geht es in diesem Buch? Es ist kein klassischer Outing-Roman, wie sie schon zu Hauff existieren. Die Mitte der Welt erinnert mich eher an das zweite Buch, was mir mein lieber Schwager Matthias vergangene Weihnacht schenkte: Tanz auf meinem Grab. Es geht hier ums Erwachsen-werden, um die innere Reife. Und darum, Nein sagen zu können um sich selbst vor größerem (persönlichen) Schaden zu bewahren. Doch in Steinhöfels Buch steht noch weniger das Schwulsein Phils im Vordergrund, als viel mehr die erwähnte Reife eines jungen Menschen.

Apropos Nachwort, zwar ist es bei Hemingway-Werken durchaus mal ziemlich reizvoll zuerst das Nachwort (ich habe die Ausgaben aus den 60ern gelesen, keine Ahnung, ob die Nachworte noch in neuren zu finden sind) zu lesen und sich dann mit dem eigentlichen Text zu befassen, aber bei der Mitte der Welt ist es durchaus doch etwas reizvoller ganz unwissend über die großen Dreh- und Angelpunkte der Geschichte an den Roman heranzugehen. Mitunter entdeckt man auch, dass man bestimmte Ereignisse schon erahnt - à la "sowas muss einfach in einer guten (schlechten?) Geschichte vorkommen!").

Apropos Schaden, wie jedem Schulromanautor - Denn Andreas Steinhöfel hat es "geschafft" (Gänsefüßchen deshalb, weil es nie sein Ziel war, einen Roman zu schreiben, der im Deutschunterricht behandelt wird; lest das erwähnte Nachwort!) einen Roman zu schreiben, der den Leuten im Ministerium für Bildung und Sport so sehr zusagt, dass er in die curicularen Vorgaben aufgenommen wird. Nebenbei sei hier ein Lob den Ministern ausgesprochen: homosexelle Literatur im Unterricht deutscher Schulen... wenn doch der Rest der Gesellschaft auf schon soweit wäre!) - ist meinem Namensvetter wohl auch der Hang zu ekeligen Passagen in die Wiege gelegt worden. Dort wird ein Junge angeschossen und das Blut überstörm sein Gesicht, hier passiert allerhand mehr, dem ich nicht vorgreifen will. Auch hier merke ich, dass mir selber Hang anhaftet - doch aber glücklicherweise eher in Andreas' Maße, als dem perversen von Günter Grass.
Diese Artverwandschaft gibt mir Mut, irgendwann wirklich ein sehr gutes Buch vollenden zu können.


Andreas Steinhöfel - Die Mitte der Welt (1998)
deutschsprachige Originalausgabe
Verlag: Carlsen
Taschenbuch, 464 Seiten
ISBN: 3551353158