Mittwoch, 30. März 2011

Damit es einfacher wird

...habe ich vor kurzem alle von mir selbst verfassten Texte - außer die Buchrezensionen (das versteht sich von selbst) - mit dem Lable "von mir" versehen. Gut, das Lable wird mir sicher keinen Grimme-Preis einbringen, aber das habe ich auch erst für mein 40. Lebensjahr vorgesehen. Haha.

So, viel Spaß weiterhin! Nutzen könnt ihr auch das RSS-Feed, dieses kleine orange Symbol ganz rechts in der Adresszeile eures Browers - zumindest bei Mozilla, Opera und IE -, dann bleibt ihr einfacher auf dem Laufenden, wann es hier neuen Lesestoff gibt.

Zur Zeit mache ich übrigens meine erste große Fortbildung, Manuelle Lymphdrainage, deswegen dauert es nun ein bisschen. Aber diese Woche auf jeden Fall noch etwas! ^^

Also, bis dann!

Mittwoch, 23. März 2011

Ach, Deutschland, Du Land der seltsamen Reflexe

Die Bundeskanzlerin scheint Landtagswahlen als Notstand zu interpretieren
Von Cora Stephan


Kürzlich schrieb ein Freund auf Facebook: "Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein." Ich habe zugestimmt - das erste Mal seit langem. Was sich dieses Land im Moment an selbstbezogener Hysterie leistet, tut richtig weh.

Doch schlimmer noch ist der Opportunismus, mit dem die Politik darauf antwortet. Kanzlerin Merkel sieht mit großer Lässigkeit davon ab, dass eine Bundesregierung Verantwortung wahrzunehmen hat, die über Tagesinteressen weit hinausgeht. Denn Landtagswahlen sind kein Notstand, der alle Mittel rechtfertigt.

In Japan hat es eine Katastrophe gegeben, die bislang tausende von Menschenleben gekostet hat. In Libyen wird die Opposition von einem durchgeknallten Diktator rücksichtslos abgeschlachtet. Doch in Deutschland pflegt man die Landesspezialität, jene ich-bezogene "German Angst", mit der sämtliche Katastrophen der Welt auf das eigene kleine Selbst hochgerechnet werden. Abwägende Stimmen wurden in den Medien übertönt von "Aktivisten", die mit einem triumphierenden "Haben wir es nicht immer schon gesagt?" ihre gelben Luftballons schwenkten und den Ausstieg aus der Atomenergie fordern. Jetzt. Sofort. Weil man ja nun gesehen habe, wie gefährlich Atomkraft sei.

Man ist hierzulande offenbar noch immer gewohnt, in jeder Katastrophe, die anderen geschieht, den Vorboten des eigenen Untergangs zu erblicken. Zugegeben, das war zu Zeiten des Kalten Kriegs nicht ganz unrealistisch, als jeder kleine Funke den Weltenbrand auszulösen vermochte, der, so sahen es die Militärstrategen vor, über Deutschland niederregnen würde. Dieses Szenario erklärt vielleicht das besondere Verhältnis zum "Atom" und zum Krieg: die Deutschen sind nicht nur durch zwei Weltkriege, sondern auch durch das Atomkriegsszenario des Kalten Kriegs offenbar gründlich traumatisiert. Und schliesslich jährt sich in wenigen Wochen der Unfall von Tschernobyl zum 25. Mal. Auch die Panik von damals mag noch vielen in den Knochen sitzen.

Doch muss eine Regierung solchen Reflexen nachgeben, gar noch mit der Begründung, auch eine bloß gefühlte Gefahr erlaube den Bruch von Recht und Gesetz? Die sonst nicht entscheidungsfrohe Angela Merkel gab selbstherrlich dem gefühlten Volkswillen nach - und Außenminister Guido Westerwelle tat das Seine in Sachen Intervention in Libyen. Atom und Krieg - nicht mit uns.

Ach, besser als der Ruf nach "Abschalten aller AKW!" hätte uns zu Gesicht gestanden, wenn Demonstranten das sofortige Abschalten von Gaddafi skandiert hätten. Der Mann ist nicht nur gefühlt, sondern wirklich gefährlich. Stattdessen gibt sich Deutschland empfindsam. Im Wahlkampf mit Atom und Krieg in Verbindung gebracht zu werden, ist in der Tat tödlich - für die politische Karriere. So opportunistisch, so untertan dem angeblichen Wählerwillen hat sich eine Bundesregierung selten präsentiert.

Wir sollten uns das Hirn nicht vernebeln lassen. Energiepolitisch herrscht in Deutschland das selbstproduzierte Chaos. Erst subventionierte man die Atomenergie als saubere Alternative zu den fossilen Energieträgern, ohne Zukunftsprobleme wie Endlagerung gelöst zu haben und unter Vergesellschaftung der Kosten. Ähnlich verfährt man mit Solar- und Windenergie, wodurch längst ein gigantischer ökologisch-industrieller Komplex entstanden ist. Die Grundlast aber können diese Energiearten nicht bestreiten. Und da es dank der Grünen keine neuen Kohlekraftwerke mehr geben darf - auf der Basis des einzigen Energieträgers, von dem man in Deutschland halbwegs reichlich hat - wird man die nötige Energie importieren müssen. Von Nachbarn wie den Franzosen, die auch jetzt noch nicht daran denken, sich vor Atomkraft zu fürchten.

Ja, die Atomkraft ist eine Brückentechnologie, auf die wir sobald wie möglich verzichten sollten. Wo aber ist die Alternative? Auch nach dem Superwahljahr 2011 werden wir noch immer auf ein vernünftiges Energiekonzept warten, mit unabsehbaren Folgen für die zahlenden Bürger. Denn keine der Parteien ist damit bislang hervorgetreten. Wir werden sehen, welche Regierung die Atomkraftwerke demnächst wieder anschalten muss.


Dr. Cora Stephan, Publizistin, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin, arbeitet als freie Publizistin und schreibt unter dem Pseudonym Anne Chaplet Kriminalromane. Nach Büchern wie "Der Betroffenheitskult" und "Handwerk des Krieges" heißt ihre jüngste Veröffentlichung "Angela Merkel. Ein Irrtum", erschienen 2011 bei Knaus. Cora Stephan lebt in Frankfurt am Main

(c) Deutschlandradio Kultur, Politisches Feuilleton [Funkfassung]

Dienstag, 22. März 2011

Frauen gegen Frauen

Das unsolidarische Geschlecht
Von Simone Schmollack


Frauen können heute alles werden: Ingenieurin, Bankerin, Hausfrau, Aufsichtsrätin, Bundeskanzlerin. Eines können Frauen heute aber offensichtlich nicht: solidarisch sein. Solidarisch mit dem eigenen Geschlecht. Vor ein paar Monaten stritten sich Frauenrechtslegende Alice Schwarzer und Frauenministerin Kristina Schröder über die Deutungshoheit, was denn Feminismus sei.

Die gesamte Republik nahm Anteil am "Zickenzoff". Ein halbes Jahr später ist Kristina Schröder erneut eine Personalie im Geschlechterkampf, wieder ausgetragen von Frauen. Diesmal geht es um die Frauenquote für Führungspositionen. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen will eine 30-Prozent-Quote für Aufsichtsräte und Vorstände. SPD-Vize Manuela Schwesig fordert sogar 40 Prozent. Das alles will Kristina Schröder nicht, ihr schwebt eine sogenannte Flexi-Quote vor: Erst sollen Unternehmen freiwillig quotieren, und wenn das nicht klappt, müsse der Staat bestimmen.

Aber auch wenn Frauen nicht ganz so prominent sind, prügeln sie aufeinander ein. Bascha Mika zum Beispiel, die selbst ernannte Feministin und Ex-Chefredakteurin der "tageszeitung" in Berlin, bezeichnet Frauen, die lieber Kinder als Karriere machen, als feige, bequem und vermaust. Ihr Buch "Die Feigheit der Frauen" steht gerade auf der Spiegel-Bestsellerliste.

Und jetzt kommt auch noch Natasha Walter, eine britische Autorin, die sagt, Frauen wollen heute lieber über eine makellose Schönheit gewinnen als über ihren Intellekt. Ihr neues Werk "Living dolls" ist gerade auf Deutsch erschienen. Als Außenstehende wohnt man diesem Schauspiel etwas irritiert bei und fragt sich: Was soll das? Und vor allem: Stimmt das denn?

Mika und Walter haben zwar Recht mit ihrer Kritik an jenen Frauen, die sie im Fokus haben. Ja, es gibt Mütter, die sich hinter ihren Männern verstecken und sich im spießigen Eigenheim mit Kindern, Hund und Fitness-Gruppe einrichten. Von Karriere ist schon lange keine Rede mehr, von Erwerbsarbeit nur selten und dann höchstens als Teilzeit. Das ist vor allem dann ärgerlich, wenn es sich um junge, gut ausgebildete Akademikerinnen handelt, die vor ihrer Schwangerschaft glaubten, Feminismus sei so alt und so überflüssig wie Alice Schwarzer. Sie nämlich seien längst gleichberechtigt und hätten das "Gedöns" gar nicht mehr nötig.

Aber das ist nicht die Mehrheit. Die meisten Frauen heute wollen Karriere und Kinder, einen Mann und ihre Unabhängigkeit, vor allem finanziell. Und dann gibt es da auch noch all jene Frauen, die sich diesen unemanzipierten Plüsch-Luxus erst gar nicht leisten können: Alleinerziehende, Beschäftigte im Niedriglohnsektor, Teilzeitkräfte wider Willen.

Warum dann also dieses Frauenbashing? Werden Frauen davon klüger, schöner, kompetenter, leistungsbereiter? Vermutlich nicht. Eher sind sie beleidigt. Schon wieder so eine, die es geschafft hat und die es jetzt besser weiß, werden sie sagen. Und dann tun sie das, was sie sonst auch tun: sich vermausen und rosa anziehen.

Es ist leider so: Frauen arbeiten oft gegen- statt miteinander. Sie haben es immer noch nicht gelernt, Bündnisse zu schmieden, auch wenn ihnen eine Mitstreiterin mal nicht passt. Stattdessen wird genau geschaut, welche Fehler sie macht. Und die werden dann genüsslich ausgeschlachtet. Das ist unprofessionell, politisch ungeschickt und zutiefst frauenfeindlich.

Die erste Frauenquote in einem deutschen Dax-Unternehmen hat ein Mann eingeführt. In Norwegen war es ebenfalls ein Mann, der die Quote festlegte. In Frankreich und in Schweden gehen Mütter selbstverständlich arbeiten und Väter in Elternzeit. Und was machen die Frauen in Deutschland? Sie keifen - sich gegenseitig an.

Simone Schmollack, geboren 1964 in Berlin, ist Redakteurin bei der "Tageszeitung" in Berlin und Autorin zahlreicher Bücher, darunter "Kuckuckskinder. Kuckuckseltern", "Deutsch-deutsche Beziehungen. Liebe zwischen Ost und West" und "Damals nach der DDR. Geschichten von Abschied und Aufbruch". Sie beschäftigt sich vor allem mit Themen an der Schnittstelle von Politik, Wirtschaft und Privatheit. Sie studierte Germanistik, Slawistik und Journalistik in Leipzig, Berlin

(c) Deutschlandradio Kultur, Politisches Feuilleton

Montag, 21. März 2011

Auf dem Abstellgleis

Die Deutsche Bahn und ihre 175-jährige Geschichte
Von Stephan Speicher


Im Dezember letzten Jahres konnte die Eisenbahn in Deutschland ein Jubiläum feiern: Vor 175 Jahren, am 7. Dezember 1835, begann der Betrieb auf der Ludwigsbahn zwischen Nürnberg und Fürth. Die Deutsche Bahn hat auch manches unternommen, das Jubiläum zu begehen. Aber hat man was davon bemerkt?

Nun fällt auf einem Bahnhof heute ja ohnedies nicht leicht der Blick auf das, was die Bahn betrifft. Die besten Plätze nimmt die Werbung ein, nach dem Fahrplan muss man suchen. Die Bahn versteckt sich. Seit ihrer Privatisierung - vielleicht ändert es sich unter dem neuen Vorstand gerade wieder, man weiß es noch nicht genau -, seit ihrer Privatisierung hat sie sich nicht mehr als ein Unternehmen verstanden, das Eisenbahnverkehr betreibt und dies mit Gewinn. Sie wurde zu einem Unternehmen, das Gewinnerzielung betreibt und dies nun mal mit der Bahn.

Auf jeder Fahrt mit dem ICE wird einem das unter die Nase gerieben. Der Speisewagen - das Wort erinnerte daran, dass dieses Verkehrsmittel rollt - wurde zum Bordrestaurant auf- oder eher heruntergeputzt. Nach jeder Station wird man aufs Neue "an Bord" begrüßt, als sitze man im Flugzeug. Aber während die Fluggäste tatsächlich zwischen Start und Landung alle gemeinsam unterwegs sind und eine gefühlte Gefahrengemeinschaft bilden - die Sicherheitshinweise machen das ja vor jedem Start klar - ist die stetige Begrüßerei im Zug widersinnig.

Wer von Bochum nach Mannheim fährt, der hat schon viermal den Namen des "Zugchefs" und viermal von den Spezialitäten des "Bordrestaurants" gehört, bevor auch nur Köln erreicht. Es ist eine dauernde Unruhe aus bloßer Wichtigtuerei. Die Schaffner hassen es genauso wie die Fahrgäste. Der Vorstand der DB Fernverkehr AG aber scheint die Prozedur zu lieben. Man kann es hören und greifen, wie wenig er verstanden hat, was es bedeutet, eine Eisenbahn zu betreiben. Die technischen Ausfälle der letzten Jahre hatten ja darin offenbar ihren Grund: in einem Rationalisierungswillen, der über die technischen Erfordernisse schneidig hinwegging.

Und was bedeutete die Bahn nicht einmal! Aufs engste war sie mit der Entstehung des Nationalstaats verknüpft. Sie fuhr ihm voran, verband die Teile des Landes und einigte es - ganz praktisch. Bis zum Aufkommen der Eisenbahn hatte jede deutsche Stadt ihre Ortszeit. Schlug es in Magdeburg 12 Uhr, so war es in Köln noch nicht so weit. Erst die Fahrpläne der Eisenbahn erzwangen die Synchronisierung. Die Bahn trieb die Entstehung größerer Wirtschaftsräume voran, diese politisch, administrativ, rechtlich zu gestalten war eine Hauptaufgabe der Nationalstaaten. Kein Zufall, dass schon 1873, zwei Jahre nach der Reichsgründung, das Reichseisenbahnamt entstand.

Die Bahnhöfe dieser Zeit wurden als Zierden der Städte angelegt wie vormals Kirchen und Rathäuser, sie waren Treffpunkte der Bevölkerung. In der Schwundstufe konnte man das bis in die 1970er Jahre beobachten. Die damals sogenannten Gastarbeiter fanden sich sonntags in den Bahnhofshallen zusammen wie auf einem Forum des industriellen Zeitalters. Noch in Jonathan Franzens Roman "Korrekturen" aus dem Jahr 2001 ist der Niedergang der amerikanischen Eisenbahnen ein Zeichen des Zerfalls der Gesellschaft.

Die Privatisierung der Bahn und der geplante Börsengang sind deshalb interessant, weil dadurch ein Instrument der Vergesellschaftung den individuellen Interessen geöffnet wird. Das ist äußerst unpopulär; ob es in absehbarer Zeit eine Regierung wagen wird, die Bahn wirklich an die Börse zu bringen, ist ungewiss. Ganz so einfach sollten wir Bürger es uns mit der Empörung aber dann auch wieder nicht machen. Als Reisende haben wir die Vorteile der wirtschaftlichen Liberalisierung mit beiden Händen ergriffen. Wo die Bahn in Konkurrenz zu den billigen Fluglinien steht, haben wir uns, preissensibel wie wir sind, gern für den Flug entschieden. Den Rationalisierungsdruck übt nicht allein der Kapitalmarkt aus. So dürfen wir von der Bahn gesellschaftlich nicht mehr erwarten als wir, die Individuen, umgekehrt der Gesellschaft zu geben bereit sind.


Stephan Speicher, Jahrgang 1955, studierte Rechtswissenschaften, Geschichte und Germanistik in Münster und Bonn. Nach einigen Jahren als wissenschaftlicher Angestellter für Neuere Germanistik an der Universität Wuppertal wechselte er in den Journalismus. 1991/92 war er Redakteur des Berliner Tagesspiegels, 1992 - 1996 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 1996 - 2007 bei der Berliner Zeitung. Seit 2008 arbeitet er für die Süddeutsche Zeitung.

(c) Deutschlandradio Kultur, Politisches Feuilleton

Donnerstag, 17. März 2011

Nicht schweigen, sondern reden über die deutsch-türkisch-islamische Identität!

Wer verneint, dass der Islam hierzulande dazugehört, beschwört die Leitkultur
Von Hakan Turan


Deutschlandweit entstehen Lehrstühle für islamische Theologie und Islamunterricht wird als ordentliches Lehrfach eingeführt. Während dessen streiten sich unsere Spitzenpolitiker in regelmäßigen Abständen darüber, ob denn der Islam nun ein Teil deutscher Kultur sei oder nicht. Eigentlich sollte die Frage heute eher lauten, in welchem Sinne, und weniger, ob er ein Teil Deutschlands ist.

Wer verneint, dass der Islam hierzulande dazugehört, beschwört meist eine Leitkultur oder eine kulturelle Identität, in der allein Platz für urdeutsche und christliche, keinesfalls aber für muslimische Elemente ist. Gleichzeitig wird die Rolle des Islams bei Integrationsproblemen oft maßlos überschätzt. Die Botschaft lautet: Ohne Islam wäre alles viel besser in Deutschland. Eine solche Botschaft bleibt freilich nicht folgenlos.

Nicht nur religiöse, sondern auch liberale und säkulare Muslime empören sich und suchen zunehmend Halt in ihrer vermuteten eigenen kulturellen Identität. Unter dem Eindruck der Integrationsdebatte festigt sich auch bei ihnen der Eindruck, dass der Islam die Grenze zwischen Deutschen und beispielsweise Türken markiere. Aber ist das wirklich so?

Es scheint unbemerkt geblieben zu sein, dass gerade die junge Generation von Muslimen längst eine starke deutsche Teilidentität besitzt. Aber selbst diese jungen Muslime sind sich dessen oft nicht bewusst. Dabei sprechen sie in der Regel wesentlich öfter und besser deutsch als beispielsweise türkisch. Auch die Erwartungen an das Leben nehmen selbst in religiösen Kreisen immer mehr Formen an, die eher für die deutschstämmigen Bürger typisch sind: das immer höhere Heiratsalter von Männern wie Frauen, der Rückgang der Geburtenrate oder der Wunsch der Frauen nach beruflicher Erfüllung und gleichberechtigter Partnerschaft.

Ja, sie sind meist religiöser als ihre deutschstämmigen Nachbarn, aber sie gehen mit ihrer Religion zugleich sehr pragmatisch um - auf eine Weise, die durchaus deutsch geprägt ist. Die Praxis ist hier also der Theorie zuvorgekommen. Die neuen theologischen Lehrstühle sind nur die Spitze des Eisberges einer zunehmend deutschen Lesart des Islams. Auch im Alltag verschieben sich Prioritäten und liberalere Denkweisen setzen sich durch, insbesondere auch in frommeren Kreisen.

Da eröffnen beispielsweise Frauen, die ein Kopftuch tragen, eine eigene Arztpraxis oder Anwaltskanzlei. Woanders arbeiten praktizierende Muslimas ohne Kopftuch im Management. Und es gibt muslimische Männer, die sich für die Theorie der Koranauslegung ebenso interessieren wie für Heavy-Metal-Musik und abendländische Philosophie.

Es greift eindeutig zu kurz, hier von einer nur oberflächlichen Anpassung zu sprechen. Auch ist es ein Vorurteil, dass es sich um irrelevante Ausnahmen von der unintegrierbaren Masse handele. Vielmehr finden wir hier weit verbreitete, oft im Stillen ausgelebte neue Identitätskonzepte vor. Besonders häufig sind dabei deutsch-türkisch-islamische Synthesen. Diese Konzepte gemischter Identitäten müssen als solche erkannt, verstanden und gefördert werden. Denn sie sind der der natürlichste Weg zu einer emotionalen Identifikation mit Deutschland.

Die muslimischen Migranten haben bei dieser Synthesearbeit einen weiten Weg zurückgelegt. Ohne die Unterstützung der Deutschen wäre dies nicht möglich gewesen. Leider ist der öffentliche Diskurs oftmals blind für diese Erfolge. Stattdessen werden undifferenziert Klischees bedient und ein zunehmend kämpferischer Ton angeschlagen. Die Enttäuschung zahlloser hervorragend integrierter Muslime ist da nur verstehbar.

Aber vielleicht ist ja gerade jetzt der richtige Zeitpunkt für sie aufzustehen und ihre Zugehörigkeit zu Deutschland zu verteidigen - und sich so zu ihrer eigenen deutschen Identität zu bekennen. Das wäre eine Bewährungsprobe für so etwas wie die deutsch-türkisch-islamische Identität. Der Erfolg würde jedoch nicht nur von der Selbstüberwindung der Muslime, sondern auch von der Aufgeschlossenheit der Mehrheitsgesellschaft abhängen.


Hakan Turan, Jahrgang 1979, studierte Diplom-Physik, Mathematik und Philosophie in Stuttgart und Tübingen, ging in den Schuldienst und arbeitet derzeit als Studienrat in Stuttgart. Er engagiert sich für die Themen Integration und interkulturelle Öffnung, unter anderem im Stuttgarter Projekt "Migranten machen Schule". Als Autor schreibt er für Lehrerzeitschriften und verfasst Essays über "Islam und Moderne" auf seinem Blog www.andalusian.de.

(c) Deutschlandradio Kultur, Politisches Feuilleton [Funkfassung]

Mittwoch, 16. März 2011

Bemerkenswertes und skurriles

Montag, 14. März 2011 11:30 Uhr

Risikoforscher Jörg Bergmann: Bilder aus Japan erzeugen "Taubheit" beim Fernseh-Zuschauer

Die Bilder werden immer wieder in unterschiedlichem Zusammenhang gezeigt. Diese Fernsehmomente von der drohenden atomaren Katastrophe in Japan erzeugen nach Ansicht des Risikoforschers Jörg Bergmann durch ihre Wiederholungen eine Taubheit bei den Zuschauern. Der Professor für empirische Sozialforschung sagte im Deutschlandradio Kultur, die Fernsehsender hätten offensichtlich zu wenig Material. Durch die immer wiederkehrenden, gleichen Bilder verliere der Zuschauer die Chronologie der Ereignisse aus dem Blick. Man starre stattdessen faziniert auf den Bildschirm, sei hilflos und könne nichts Neues entdecken, erklärte Bergmann. Dadurch werde eine Art innere Blockade erzeugt.

Mittwoch, 16. März 2011 11:30 Uhr

Malaysische Regierung gibt 35.000 beschlagnahmte Bibeln wieder frei

35.000 Bibeln hatte die Regierung in Malaysia 2009 beschlagnahmt. Jetzt sind die aus Indonesien importierten Schriften überraschend wieder freigegeben worden. Wie malaysische Medien berichten, müssen sie allerdings mit einem Stempel "Nur für Christen" versehen werden. Das Innenministerium in dem mehrheitlich muslimischen Land hatte die Bibeln beschlagnahmt, weil in ihnen das Wort Gott mit "Allah" übersetzt wird - um den Gebrauch des Wortes "Allah" gibt es seit Jahren politischen und juritischen Streit in Malaysia.

Künstler will alle Einwohner New Yorks porträtieren

"Ich werde scheitern. Aber der Versuch macht mir Spaß." Das sagt der Künstler Jason Polan über seinen Plan, die Gesichter aller acht Millionen Einwohner der Stadt New York zu zeichnen. Ungefähr 14.000 Porträts hat der 28-Jährige bereits zu Papier gebracht, der seine Modelle meistens unbemerkt an Bahnhöfen, am Straßenrand oder in Parks zeichnet. Die fertigen Werke stellt er ins Internet. Polan sagt von sich, er habe eine Leidenschaft fürs Katalogisieren - so habe er zum Beispiel auch schon einmal eine Tüte Popcorn gekauft und jedes Stück einzeln gezeichnet.

(c) Deutschlandradio Kultur, Kulturnachrichten

Montag, 14. März 2011

Freitag, 11. März 2011

Das nächste Schulmassaker kommt bestimmt

Machen wir uns Gedanken?
Von Alexander Schuller


Das nächste Schulmassaker kommt bestimmt. Die Verhältnisse, die sind halt so. Die Mörder kommen offenbar aus ordentlichen Familien. Sie haben Vater und Mutter und ein eigenes Zimmer.

Sie tragen schicke Klamotten, haben gut zu essen und alles, was junge Menschen so brauchen: Fernsehen, Computer, Videospiele. Sie sind unauffällig und freundlich, vielleicht ein bisschen scheu, aber das ist in dem Alter ganz natürlich. Alles scheint in Ordnung. Und dann das: Massaker, schwere Waffen und schwarze Uniformen. Massenmord, das hatten wir nicht auf dem Schirm.

Trotzdem, es passiert immer wieder. Und immer wieder sind wir, bemüht und bieder, fassungslos. Wir schicken Berater und Therapeuten in die Schulen, in die Familien, ins Fernsehen. Wir ziehen Experten hinzu, immer nur die besten. Die plaudern dann aus dem Nähkästchen ihres Faches. Dabei interessiert vor allem: Wie sind die Kids bloß an die Waffen gekommen? Müssen wir die Gesetze verschärfen, den Zugang zu den Waffen neu regeln, die Altersgrenze verschieben? Die Gesetzeslage und die Lagerung der Waffen, das wird diskutiert. Und wir regen uns auf über die Videos, über Killerspiele, die sich die Kids unbeobachtet in ihrem Zimmer bis spät in die Nacht reinziehen. Das finden wir zwar nicht so schön, aber eigentlich interessiert uns diese virtuelle Welt nicht. Wir sehen uns andere Programme an.

Dass diese Videos, die langen einsamen Nächte am Bildschirm mit dem Morden irgendwie zu tun haben könnten, das ahnen wir schon. Aber dann beruhigen uns die Experten. Die Daten seien nicht eindeutig. Das Spielen mit Mord und Massaker sei vielleicht sogar hilfreich, um Aggressionen abzureagieren. Es gebe schließlich Millionen Kinder, die jeden Tag am Computer spielen, dann morgens ihre Cornflakes essen und friedlich in ihre Schule gehen.

Trotzdem stehen die Fragen im Raum, alptraumhaft. Warum sind die Massenmörder alle männlich? Warum tragen sie zum Morden eine Kampf-Uniform? Warum morden sie vor allem in ihren eigenen und nicht in anderen Schulen? Warum bemerken die Familien nichts? Warum geschehen diese Massaker in post-modernen Gesellschaften?

Diese Fragen werden selten laut gestellt. Wahrscheinlich weil wir im Innersten längst wissen, dass weder die frei zugänglichen Waffen, noch die Killerspiele, noch unsere Kids das Problem sind. Das Problem sind die Erwachsenen. Zu häufig haben sie in ihrem Leben keinen Raum mehr für Kinder. Zwischen beruflicher und persönlicher Selbstverwirklichung, zwischen Urlaub und Geldverdienen werden Kinder vielen zur Zumutung. Mann und Frau haben Besseres zu tun, als eine Familie zu betreiben. Nicht freiwillig, mehr notgedrungen entziehen sie den Kindern Heimat und Häuslichkeit und ersetzen sie durch Wohlstand und Technik. Familie als lebendige Einheit funktioniert nicht mehr. Das ist kein Geheimnis.

Weder in Erfurt noch in Winnenden wussten die Eltern, was sich in den Nächten und in den Seelen ihrer Kinder abspielte. Ursula von der Leyen hat schon recht: Eltern sind am glücklichsten, wenn sie den Nachwuchs möglichst früh abschieben können. Allerdings müssen wir nun immer damit rechnen, dass ein stiller, unauffälliger Junge seinen schwarzen Kampfanzug anzieht, sich rüstet mit der Waffe seines Vaters und sich vor aller Öffentlichkeit endlich, endlich rächt für Einsamkeit und Demütigung. Er zeigt aller Welt und vor allem sich selber, wer er ist: ein richtiger Mann. Tragisch, dass wir ihm das nicht anders vermitteln konnten.

Alexander Schuller ist Soziologe, Publizist und Professor in Berlin. Er hatte Forschungsprofessuren in den USA (Princeton, Harvard) und ist Mitherausgeber von "Paragrana" (Akademie Verlag). In seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen befasst er sich mit Fragen der Anthropologie und der Bildungs-, Medizin-, Geschichts- und Alltagssoziologie. Er arbeitet als Rundfunk-Autor sowie für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften wie "Merkur" und "Universitas".

(c) Deutschlandradio Kultur, Politisches Feuilleton - 26.03.09

Dienstag, 8. März 2011

Frauenquote und Quotenfrau

Über eine Gleichstellung, die keiner und doch alle wollen

Es hat mich Überrascht, was für gegensätzliche Auffassungen zum Thema "Frauenquote" ich vertrete. Nicht, dass das ungewöhnlich für meine Meinungen zu politischen, sozialen und kulturellen Angelegenheiten sei, aber während des Brainstormings zu diesem Text pendelte mein Standpunkt deutlich wahrnehmbar zwischen "ganz klar dagegen" zu "naja, doch nicht so schlecht" und endete(?) bei "Vorsicht!"...

Ich bin eigentlich schon immer gegen Faulheit gewesen, mein Motto lautet "Hirn will Arbeit!"; meine einzige Ausnahme ist die Faulheit zum Zweck der Rekreation (tolles Wort!). Da kommt es auch schon mal vor, dass ich nach dem Mittagessen einfach mal kein Buch lese, sondern mich gleich mit Decke auf der Couch ausstrecke und eine kleine Weile einfach vor mich hin schnarche.

Wir begehen heute den einhundertsten Jahrestag der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau - und wenn das nicht, dann zumindest den 100. internationalen Frauentag. Muss da wirklich noch mit einer Quote, mit einer vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Regelung, nachgeholfen werden, dem weiblichen Geschlecht den Weg in Führungspositionen zu erleichtern? Sollte nicht lieber der eigene Anspruch der Frau an die Ausgestaltung ihres Lebens Ausgangspunkt für ihre Karriere sein?
Jeder mündige Mensch bestimmt selbst, vorhin er sein Leben führt. Und wenn man nicht gut genug ist, in einer Führungsposition zu arbeiten, dann muss man sich eben qualifizieren. Durch seine Leistungen und Erfolge wird die nötige Überzeugungsarbeit geleistet, in der Führungsetage arbeiten zu können.

Erweckt nicht die "Frauenquote" den Schein, dass man als Frau nicht mehr 100 oder sogar 150% Leistung erbringen müsste, weil sie aufgrund der gesetzlichen Vorgabe eh den freien Posten bekommen würde? Eine Einladung an die Quotenfrau zur Durchschnittsarbeit?!

Aber halt! Verfallen wir da nicht einem sehr idealistischen, fast utopischem Glauben von einem Miteinander zweier Wesen, die einander nicht mal ansatzweise verstehen? Ich beobachte immer mehr Reaktionen von Männern wie "Störrisches Weib!" oder "Typisch Frauen!". Auch jede Frau dürfte schon mal den Punkt erreicht haben, an dem ihr das männliche Verhalten einfach unerklärlich schien.
Äußerungen, die ich besonders über den Lebenspartner oder den Lebensabschnittsgefährten gehört habe. Die Partien sehen sich einer völlig fremden Welt von Automobil-vergötternden Sexmaschinen und haufenweise Schuhe kaufenden Heulsusen gegenüber. Aber worin mündet dieses Unverständnis? Denn nicht nur junge Erwachsene Anfang 20 äußern sich ratlos und verärgert über die eigenartig gesetzten Prioritäten ihre "großen Liebe" (oder auch der kleinen...), auch Ehepartner, die mehrere Jahrzehnte schon ihre Lebenszeit gemeinsam verbracht haben, mangelt an Nachvollziehbarkeit der Hobbys, Vorlieben persönlichen Ansichten zur gemeinsamen Lebensgestaltung.

Beziehungen wurden nicht erst seit der 68er-Revolution über die sexuelle Emanzipation der Frau und der Suche nach persönlicher Lebensfüllung mit einer hohen Quantität an sexuellen Kontakten als Konstitution (nicht Institution!) zur Maximierung des persönlichen Glückes verstanden. Die Gattung Mensch scheint sich nie von der urgeschichtlichen Lebensweise der Nomaden entfernt zu haben. Aus dem Schulunterricht ist uns das Schlagwort "Jäger und Sammler" noch geläufig. Wir jagen und sammeln unsere Beute und unsere Trophäen: Abendteuer, Sexgeschichten, Unterhöschen, duftende Pullover und auch in einigen Fällen Eheringe.
Wo aber die umherziehenden Menschen es noch schafften, rund vier Jahre zusammenzubleiben, um die Nachkommen aufzuziehen und danach wieder frei für die Mehrung des Erbgutes der Gruppe zu sein, bringen die meisten Beziehungen in Deutschland es heutzutage nicht mal auf über zwei Jahre gemeinsame Zeit. Ohne Kinder.

Die neue Ideologie der deutschen Beziehungen: sich nur auf sich selbst konzentrieren. Das Individuum schafft sich überall Raum für die eigene Entfaltung der Persönlichkeit. Ja, aber ist es das nicht, was mein ureigenstes Menschenrecht ist? Steht doch in unsrer Verfassung ganz oben!
Völlig richtig, aber kannst du eine Beziehung führen, wenn es nur heißt "Ich! Ich! Ich!"? Schwerlich. Zu einer Partnerschaft gehören immer zwei. Das ist ihr grundlegender Wesenszug - das, was sie ausmacht: zwei (2) Individuen beschließen aus ihren zwei Ichs e i n Wir zu machen. Das impliziert hier eine wirkliche Selbstaufgabe. Die Individuen haben festgestellt "Ohne dich bin ich nicht komplett!" Das macht Liebe aus!

Ich maße mir nun an zu postulieren, dass jede Rede von Liebe ein Irrtum und eine Lüge ist, wenn nicht beide Partner sich die Frage gestellt haben: Wer bist du? Im jüdisch-christlichen Schöpfungsbericht steht, dass Adam und Eva sich erkannten - dass sie keine Geheimnisse mehr voreinander hatten. Keine körperlichen, keine persönlichen.
Ich habe selbst erlebt, wie gewaltig diese Forderung an den Partner ist. Mein Partner war nicht dazu bereit und mit der Zeit wurden die Geheimnisse nicht weniger sondern mehr. Ich habe stillschweigend gefordert - gewünscht, aber am Ende war ich wieder allein und Single.

Es ist gewiss nicht leicht, sich auf einen anderen Menschen einzulassen, und genau darauf zu hören, was er sagt. Mit den Ohren. Mit dem Herzen.
Mir persönlich erscheint die Entscheidung eines Chefs oder eines Aufsichtsrates (aus Männern) nur logisch, keine Frau in den Firmenvorstand aufzunehmen, sich die Arbeit mit ihr zusätzlich schwer zu machen, wenn es schon zu hause nicht klappt, mit der eigenen Frau klarzukommen, weil der Drachen es nicht ertragen kann, wenn man die Socken am Ende des Tages einfach nur ausziehen will und nicht auch gleich noch in die Wäschetonne zu tragen. "Ich will einfach nur hier sitzen." Keine Bierfalschen wegräumen und auch kein benutztes Badetuch zurück ins Badezimmer tragen, wenn es trocken ist.
Ja, am Ende tyrannisiert mich so ein Weib auch noch im Betrieb! Niemals!!!

Es wird solange eine Frauenquote und die Quotenfrauen geben (müssen), wie Männer und Frauen nicht bereit sind, die vordefinierten Rollen hinter sich zu lassen, die die Gesellschaft ihnen aufzwingt.
Es muss eine selbstgewollte unmännliche, weiche Hausmannquote geben und eine selbstgewollte (eigener Anspruch der Firmen) Frauenquote in allen Arbeitsbereichen. Ich persönlich kenne z.B. nur eine Frau, die Kfz-Mechanikerin ist. Und wohl eine gute noch dazu!
Soll sich die Gleichberechtigung zwischen Testosteron und Östrogen in Fleischgestalt wirklich durchsetzen, muss sich das Selbstbild ändern.

Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine gute Frau, die ihm den Rücken freihält, sagte mir einmal ein Mann, der seine Frau seit vielen Jahren die Treue in einer glücklichen Ehe hält.
Warum soll nicht hinter jeder erfolgreichen Frau auch ein Mann stehen, der ihr den Rücken freihält?

Freitag, 4. März 2011

"Und damit zurück nach Hamburg"

Die mediale Wahrnehmung welthistorischer Ereignisse
Von Reinhard Mohr


Erinnern Sie sich noch an Langspielplatten, an diese großen, schwarzen, runden Dinger mit Rillen drin? Eine wunderbare Erfindung des 19. Jahrhunderts. Leider hatten sie manchmal einen Kratzer. Dann blieb der Tonabnehmer hängen und wiederholte immer dieselbe Stelle. Immer und immer wieder. Heutzutage übernehmen die politischen Talkshows die Funktion der defekten Langspielplatte: Hartz IV, Hartz IV, Hartz IV, Gesundheit, Pflege, Rente und Deutschland am Abgrund. Wieder mal. Wie immer. Und so weiter.

Die obsessive Selbstbeschäftigung ist zum Mantra jenes elektronischen Massenmediums geworden, das eigentlich prädestiniert ist für den weiten, ja weltweiten Blick. Doch nichts da, immer schön zu Hause geblieben am wärmenden Herdfeuer des eigenen Unglücks.

Und so war es wahrscheinlich kein Zufall, dass es Tage dauerte, bis das deutsche Fernsehen auf die revolutionären Umstürze in Tunesien und Ägypten, schließlich in Libyen, halbwegs angemessen reagierte. Man blieb in einer merkwürdigen Starre zwischen professionell erzeugter Emotionalität und dem dauerbesorgten Politsprech medialer Pseudo-Zeitzeugenschaft hängen.

Besonders unangenehm fiel dabei eine Sendung auf, in der binnen 40 Minuten ein Dutzend Gesprächspartner von Köln bis Kairo übers virtuelle arabische Gelände gejagt wurde, ohne dass auch nur einem einzigen Gedanken wirklich nachgegangen wurde. Diese Form demonstrativer Ereignishektik kontrastiert scharf zur eigentümlich bräsigen Alltagsroutine, mit der selbst revolutionäre Umwälzungen in der Welt noch ins bürokratisch durchgeplante Programmschema eingepasst werden. Immerhin begrüßte der Moderator mit Hamed Abdel-Samad ausnahmsweise einmal einen wahrhaftigen Ägypter (wenn auch mit deutschem Pass), der zudem wochenlang gegen Mubaraks Herrschaft mitdemonstriert hatte.

In den berüchtigten Talkshows bleibt man ansonsten gern unter deutschen Landsleuten. Motto: Bloß nicht zu viel Information aus erster Hand, das bringt den geplanten Ablauf einschließlich der famosen Einspielfilmchen nur durcheinander. Und so müssen eben die üblichen Verdächtigen des deutschen Politikbetriebs fehlende Auslandserfahrung, Engagement und Fachkompetenz durch verstärkte Floskelproduktion ausgleichen.

Bis zum heutigen Tage kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, bei einer neuen großen Oderflut oder zwei Wochen Dauerregen in Oberbayern würden mehr Reporter in Gummistiefeln an die Front geschickt als bei diesen sensationellen Ereignissen von welthistorischer Bedeutung.

Als dann schließlich, auf dem Höhepunkt der ägyptischen Revolte, die schon hunderte Tote gefordert hatte, die Reporter "live" von den Balkonen rund um den Tahrir-Platz berichteten, gelang manch einem wackeren Korrespondenten kaum ein fehlerfrei aufgesagter Satz außer dem rettenden "Und damit zurück nach Hamburg". "Danke für Ihre Analyse des Geschehens", kam das artige Echo aus dem heimischen Studio, doch von Analyse war leider keine Spur. Entweder wurden diffuse Bauchgefühle weitergegeben oder wohlfeile Nahost-Stereotype - doch kaum je ein fundiertes Urteil auf dem Hintergrund jahrzehntelanger Reporter-Erfahrung. Wer ein bisschen im Netz surfte, war stets weitaus besser informiert als durch den Reporter "vor Ort". Es sei denn, er schaltete CNN ein.

Einen mildernden Umstand gibt es: Die mangelnde Geistesgegenwart des deutschen Fernsehens war nicht zuletzt ein getreuer Spiegel der Reaktion in Deutschland und Europa insgesamt. Während in den arabischen Despotien millionenfach der Ruf nach Freiheit, Demokratie und Menschenrechten ertönte, beschäftigte sich der Kontinent, auf dem sie erfunden und erkämpft wurden, mit den immer gleichen Wehwehchen der wohlstandsübersättigten Seele.

Und damit zurück nach Tripolis.

Reinhard Mohr, geboren 1955, ist freier Journalist. Zuvor schrieb er für "Spiegel Online" und war langjähriger Kulturredakteur des "Spiegel". Weitere journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Buchveröffentlichungen u. a.: "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z", "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern" und "Meide deinen Nächsten. Beobachtungen eines Stadtneurotikers".

(c) Deutschlandradio Kultur, Politisches Feuilleton

Donnerstag, 3. März 2011

Copy and paste

Über atmende und tote Texte
Von Barbara Sichtermann


Was ist eigentlich ein Text? Wörtlich übersetzt ist er ein "Gewebe" - das Wort "Textil" hat denselben Ursprung - und das bedeutet: Es steckt Vieles darin. Fäden laufen rauf und runter, längs und quer, Kette und Schuss, und so wird daraus ein Stoff. Man kann das Tuch oder den Teppich sehr wohl mit dem gedanklichen Gewebe, dem Text, vergleichen. Die Übereinstimmung der Wörter ist kein Zufall.

Aber es gibt Texte und Texte. Es gibt sorgfältig gewebte Texte, und es gibt notdürftig zusammengestoppelte Texte. Es gibt lebendige Texte, die beim Lesen ganze Vorstellungswelten erschließen, und es gibt tote Texte, die nur Fakten oder Aspekte oder so genannte Inhalte runterrattern. Es gibt ansprechende, atmende Texte, und es gibt hohle, stickige Texte. Ganz wie es feste vielfarbige Teppiche gibt, auf denen man tanzen kann und grob vernähte schiefe Lappen, die zerreißen, wenn man sie betritt. Das Problem ist, dass unsere Gesellschaft, soweit sie Texte braucht und produziert, das Gefühl für den Unterschied verliert.

Ein guter Text hat immer eine Stimme, die im Kopf des Lesers widerhallt. Er spricht den Leser an, getreu der Absicht seines Autors, mit dem Publikum zu kommunizieren. Der Schreiber eines Textes möchte ja verstanden werden, er möchte - weitergehend - seine Leser überzeugen, sie mitnehmen, sie beeinflussen, ihnen etwas erklären. Manchmal auch sie zum Lachen bringen oder sie verstören. Egal, wie die Absicht im Einzelfall aussieht, die Stimme muss, damit die Kommunikation Text-Leser gelingt, vorhanden sein: als Eigenart eines Textes, als seine Subjektivität, als sein Geist. Nur ein solcher Text, der seine Leser bei der Hand nimmt, sie führt, sie überrascht, ist ein guter Text.

Wir leben seit der digitalen Revolution mit dem Computer, von dem manche meinen, er sei schlauer als wir. Wir beschäftigen uns unaufhörlich mit ihm, lernen, ihn zu bedienen und seine Funktionen zu vervielfältigen und vergessen darüber, dass er ja nur ein Medium ist, nur ein Mittel zum Zweck. Es ist ein bisschen so wie bei den großen Publikumsfilmen "Terminator" und "Matrix": Die Maschinen haben die Welt übernommen, die Menschen mit ihren Gedanken sind nur noch Anhängsel. Das Medium ist gänzlich zur Message geworden. Und den Text haben die Maschinen zum "Inhalt" degradiert, der beliebig verwendbar ist, der aber nicht mehr atmen, nicht mehr flüstern, nicht mehr rufen muss, um nützlich zu sein. Und so ist es nicht verwunderlich, dass die Leselust abnimmt.

Im Zeitalter des copy and paste schreibt der Autor seinen Text immer öfter nicht mehr mit der Absicht, seinen Leser in die eigene Gedankenwelt einzuführen, sondern er fabriziert ihn mit der Absicht, Informationen weiterzugeben. Er kombiniert ein paar "Inhalte" zu einem "Reader" und fertig ist er. Diese Art des Kompilierens ist an Schulen und Unis längst üblich. Sie kümmert sich nicht darum, ob ein Text atmet. Man sieht so was ja auch auf dem Bildschirm nicht.

Die Affäre Guttenberg hat gezeigt, wie groß die Macht der Maschinen im Geistesleben schon geworden ist. Immer wieder hieß es, unser Ex-Verteidigungsminister habe in seine Doktorarbeit eine große Menge Fremdtexte eingebaut, ohne deren Herkunft durch Anführungszeichen und Quellenangabe zu kennzeichnen, und darin liege sein Verstoß gegen die Usancen des wissenschaftlichen Betriebs. Aber was wäre denn gewesen, wenn er diese Kennzeichnung vorgenommen hätte? Er hätte einen Flickenteppich aus Textfragmenten fremder Autoren abgeliefert, den sein Doktorvater ihm postwendend zurückgegeben hätte.

So aber, ohne Anführungszeichen, blieb der Anschein von Homogenität gewahrt - der jedoch bei aufmerksamer Lektüre hätte schwinden müssen. Die Prüfer seiner Arbeit haben nichts gemerkt - vielleicht weil sie schon daran gewöhnt waren, Texte zu lesen, die keine individuelle Stimme mehr haben, keinen Atem, keinen Fluss und keinen Charakter. Man muss nicht plagiieren, um einen solchen toten Text herzustellen. Es reicht, wenn man sich der Atemlosigkeit des Copy-and-paste-Zeitalters unterwirft.


Barbara Sichtermann, Jahrgang 1943, lebt als freie Autorin in Berlin. Sie ist Kolumnistin der Wochenzeitung Die Zeit. Ihre letzten Buchveröffentlichungen: "Lebenskunst in Berlin" (mit Ingo Rose), "Romane vor 1900" (mit Joachim Scholl) und "Das Wunschkind" (Mitautor Claus Leggewie).

(c) Deutschlandradio Kultur, Politisches Feuilleton

Dienstag, 1. März 2011

Der Sonnenaufgang

von Alexander Hagen

Wenn ein Mensch stirbt, dann ist es eine Erlösung für ihn. Das sage ich als eine Maxime für jedes Alter, dass eine Seele erreichen kann. Egal ob Neugeborenes, ob Greis. Es ist immer Erlösung! Stirbt ein Menschenkind ungeboren oder kurze Zeit nach seiner Geburt oder erst im Alter, da es zur Schule gehen soll; oder stirbt ein Erwachsener… ist es Erlösung. Das Sterben ist die Krux.
Dem Kind bleibt die Erfahrung all des Leids auf der Welt erspart. Und stirbt ein erwachsener Mensch, so wird sein erlebtes Leid getilgt. Er wird es los – für immer. Und für immer bleibt Ruhe.

Mein Alter umfasst sechsundachtzig Jahre; seit ich in der Stadt Berlin geboren wurde, ist also bald ein ganzes Jahrhundert vergangenen. Ich habe gelebt und geliebt – am meisten die immer wiederkehrenden Sonnaufgänge. Den Morgen eines Tages. Ein jeder Morgen vertrieb die mir die Blindheit der Nacht, die mich oft in tiefste Ängste stürzte.
Doch mehr noch in meinem Leben habe ich gelitten: Ich hatte eine Kindheit, die von den Schlägen meines Vaters dominiert war, wenn ich schlechte Noten nach Hause brachte oder mir der Wassereimer zu Boden fiel. An meinen roten Haaren wurde ich gezogen und manches Mal auch fast geschleift. Mein Geld verdiente ich später als Hure und war am Ende des Tages gezwungen bei den Pennern zu schlafen. Erwischte mich ein Schutzmann, wie ich am Abend meinen Körper den Männern anbot, verschwand ich für Tage und Wochen ins Zuchthaus!

Nun bin ich alt, mein Körper ausgezehrt und kraftlos. Er wurde ausgenutzt von ihnen, vor Jahren – im so genannten „Tausendjährigen Reich“ und man ließ mich gewaltvoll und schmerzend unbarmherzig das angeschwollene, widerwärtige Fleisch spüren.
Von all der erlebten Schmach, in meinem Leben, war das die schlimmste. Heute bin ich in einem sozialistischen Staat und vor zwölf Jahren eine Trümmerfrau gewesen, auch verwaiste Mutter. Das Kind hat mir der Krieg genommen. Ich nehme nun dem Leben: mich. Bin von allen verlassen, bin eingekehrt in einen Gasthof, der ist aus Backsteinen gebaut. Mein Zimmer ist schön, mit braunen Kommoden. Der Ort ist klein und unbedeutend. Niemand wird es merken, wenn ich mein Bett verlasse, weil auch ich nun endlich die Erlösung bekommen werde.

So liege ich nun in meinem Bett, meiner letzten Ruhestätte mit der weißen Wäsche und den blauen Blumen darauf. Das Gift habe ich seit der fernen Nacht mit dem Offizier mit der schwarzen Uniform. Ich habe es ihm aus seiner Jacke genommen, als er erschöpft einschlief. Heute nimmt aller Schmerz ein Ende.
Schön spüre ich es, blicke aus dem Fenster, der Tag beginnt schön. Es bleibt mir – die Erlösung sei mit dem Herzen gegrüßt – der Sonnenaufgang. Der Sonnenauf...


Diese Geschichte ist im März 2008 in Bad Wilsnack, am späten Abend, entstanden. Sie stellt zwar einen Ausdruck meiner Stimmung von damals dar, lässt aber keinen Rückschluss auf meine Gedanken zu. Ich nutzte die depressive Stimmung, um einen fiktiven Monolog einer Frau zu schreiben, die gerade Selbstmord begeht und ihr Leben reflektiert.
Ich kann mich erinnern, dass es eine Wohltat war, nach gut einem Jahr wieder einen Stift in die Hand nehmen zu können und Wörter zu einer Geschichte zusammenzufügen. Die Muse war zurückgekehrt. Dass ich gern schreibe, denke ich, merkt man sehr deutlich.

Der Sonnenaufgang, eignet sich mit diesem Hintergrund sehr gut als erste selbstverfasste Kurzgeschichte, die ich nach dem Neustart hier veröffentliche; auch, wenn sie stilistisch keine klassische Kurzgeschichte ist, denn diese beginnen ja immer "unvermittelt", der Leser gerät also plötzlich in die Handlung.
Alle meine (Kurz-)Geschichten und Romane habe ich unter dem Alter Ego "Alexander Hagen" verfasst, also nicht Wundern.

Der Oberdieb

Die Causa zu Guttenberg wird immer interessanter. Ist Euch, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, schon der Widerspruch aufgefallen? Alle Welt jammert in Deutschland über die hohe Arbeitslosigkeit - gut im Moment nicht - und auf der anderen Seite wird ein Minister der Bundesregierung geradezu auf dem Amt... aus der ARBEIT gedrängt.

Nebenbei, um seine berufliche Zukunft mache ich mir keine Sorgen. Der ungeliebte Alt-Kanzler und Oberclown, Gerhard Schröder, hat auch wieder Arbeit gefunden - Gas.
Apropos, die Benzinpreise gerade sind ja eine Frechheit! Libyen (sprich: Lie-bü-en) hat kein bedeutendes Gewicht auf dem Weltmarkt, aber man muss schrauben - schon klar!

Ich glaube übrigens nicht, dass die Affäre um Herrn zu Guttenberg Schuld an der sogenannten Politikverdrossenheit ist. Schon lange vor ihm waren die Damen und Herren da oben "Lügner und Heuchler", denen man nur ungern oder gar nicht seine Stimme geben mag. Allen voran Gerhard Schröder.

Ja sicher, ein Plagiat, ins besondere eine Doktorarbeit in Jura, ist kein Kavaliersdelikt, aber rechtlich gesehen ist die dazugehörige Strafe bereits vollstreckt - Aberkennung des Titels! Was soll denn nun noch geschehen?
Was jetzt abläuft, ist eine Hexenjagd. Ich dachte ja eigentlich, das Gerede würde nun erstmal verebben, aber augenscheinlich wird es keinen nächsten Skandal geben, der dann erst Anlass für den Rücktritt des Ministers sein wird. Das ganze wird weiter hochgepusht. Meine aktuelle Prognose, der Minister wird aus dem Amt geredet.

Ich habe noch einen Vorschlag für die nächste Bundestagswahl! Wie wäre es, wenn man die Stimmabgabe in Zukunft als App für das iPhone anbieten würde? Ich glaube damit könnte man wieder eine Menge Leute erreichen...