Sonntag, 27. Januar 2013

Zur soziologischen Psychologie der Löcher

Ein Loch ist da, wo etwas nicht ist.

Das Loch ist ein ewiger Kompagnon des Nicht-Lochs: Loch allein kommt nicht vor, so leid es mir tut. Wäre überall etwas, dann gäbe es kein Loch, aber auch keine Philosophie und erst recht keine Religion, als welche aus dem Loch kommt. Die Maus könnte nicht leben ohne es, der Mensch auch nicht: es ist beider letzte Rettung, wenn sie von der Materie bedrängt werden. Loch ist immer gut.

Wenn der Mensch ›Loch‹ hört, bekommt er Assoziationen: manche denken an Zündloch, manche an Knopfloch und manche an Goebbels.

Das Loch ist der Grundpfeiler dieser Gesellschaftsordnung, und so ist sie auch. Die Arbeiter wohnen in einem finstern, stecken immer eins zurück, und wenn sie aufmucken, zeigt man ihnen, wo der Zimmermann es gelassen hat, sie werden hineingesteckt, und zum Schluß überblicken sie die Reihe dieser Löcher und pfeifen auf dem letzten. In der Ackerstraße ist Geburt Fluch; warum sind diese Kinder auch grade aus diesem gekommen? Ein paar Löcher weiter, und das Assessorexamen wäre ihnen sicher gewesen.

Das Merkwürdigste an einem Loch ist der Rand. Er gehört noch zum Etwas, sieht aberbeständig in das Nichts, eine Grenzwache der Materie. Das Nichts hat keine Grenzwache: während den Molekülen am Rande eines Lochs schwindlig wird, weil sie in das Loch sehen, wird den Molekülen des Lochs ... festlig? Dafür gibt es kein Wort. Denn unsre Sprache ist von den Etwas-Leuten gemacht; die Loch-Leute sprechen ihre eigne.

Das Loch ist statisch; Löcher auf Reisen gibt es nicht. Fast nicht.

Löcher, die sich vermählen, werden ein Eines, einer der sonderbarsten Vorgänge unter denen, die sich nicht denken lassen. Trenne die Scheidewand zwischen zwei Löchern: gehört dann der rechte Rand zum linken Loch? oder der linke zum rechten? oder jeder zu sich? oder beide zu beiden? Meine Sorgen möcht ich haben.

Wenn ein Loch zugestopft wird: wo bleibt es dann? Drückt es sich seitwärts in die Materie? oder läuft es zu einem andern Loch, um ihm sein Leid zu klagen – wo bleibt das zugestopfte Loch? Niemand weiß das: unser Wissen hat hier eines.

Wo ein Ding ist, kann kein andres sein. Wo schon ein Loch ist: kann da noch ein andres sein?

Und warum gibt es keine halben Löcher –?

Manche Gegenstände werden durch ein einziges Löchlein entwertet; weil an einer Stelle von ihnen etwas nicht ist, gilt nun das ganze übrige nichts mehr. Beispiele: ein Fahrschein, eine Jungfrau und ein Luftballon.

Das Ding an sich muß noch gesucht werden; das Loch ist schon an sich. Wer mit einem Bein im Loch stäke und mit dem andern bei uns: der allein wäre wahrhaft weise. Doch soll dies noch keinem gelungen sein. Größenwahnsinnige behaupten, das Loch sei etwas Negatives. Das ist nicht richtig: der Mensch ist ein Nicht-Loch, und das Loch ist das Primäre. Lochen Sie nicht; das Loch ist die einzige Vorahnung des Paradieses, die es hienieden gibt. Wenn Sie tot sind, werden Sie erst merken, was leben ist. Verzeihen Sie diesen Abschnitt; ich hatte nur zwischen dem vorigen Stück und dem nächsten ein Loch ausfüllen wollen.


Kurt Tucholsky. (1931)

Donnerstag, 3. Januar 2013

Die kleine Schwalbe

Für Omi,
Alles Gute zum Geburtstag

Leise nieselt der Herbstregen vom Himmel. Goldgelb erglänzt das Laub. Die Trauben stehen in letzter Reife, und die prallen Beeren beginnen zu platzen. Die Astern neigen ihre Blüten über einen im Gras liegenden zerbrochenen Krug. Im Krug zittert vor Kälte und Kummer ein kleines Schwälbchen. Alle sind schon fortgezogen. Seine beiden Schwesterchen flogen nach dem Süden, und auch seine Mütterlein entschwand nach einem fernen Land. Wer wird es in dieser regenfeuchten Nacht wärmen? Man hatte es hier in diesem zerbrochenen Krug zurückelassen, denn es war lahm und konnte nicht fliegen. Im Sommer war in dem Haus, unter dessen Dach seine Mutter das Nest gebaut hatte, ein Brand ausgebrochen. Während die Schwalbenmutter ihr Küken retten wollte, fiel ein Glutstück ins Nest und versengte den rechten Flügel des Schwälbchens. Das nackte Vögelchen verspürte einen heftigen Schmerz, und als es wieder zu sich kam, lag es in einem anderen Nest: neben ihm saß seine Mutter und ließ das Köpfchen hängen. Das Kleine versuchte seine Schwingen zu bewegen, konnte es jedoch nicht, da der rechte versengte Flügel lahm war.

Der Sommer verging. Die Trauben reiften. In den Gärten blühten bereits die Astern. Die Schwalben versammelten sich auf den Telegraphendrähten. Sie rüsteten sich zur Reise. Sie hockten auf den Drähten, aufgereiht wie ein Rosenkranz.

Eines Tages brachte die Schwalbenmutter ihr lahmes Vögelchen in den Garten und sagte: "Liebes Kind, wir ziehen heute nach dem Süden. Du mußt hier bleiben, weil du nicht fliegen kannst. Da, in diesem Krug habe ich dir ein weiches Nest bereitet. Hier kannst du liegen, und wenn du hungrig wirst, hüpf heraus und such dir etwas Nahrung. Der ganze Garten ist voller Früchte. Im Frühjahr kommen wir wieder zurück."

"Hab Dank, Mütterlein, für deine Sorge um mich", sagte das flügellahme Schwälbchen und steckte sein Köpfchen, um seine Tränen zu verbergen, unter den Flügel der Mutter.
Alle zogen fort. Es folgte graue Tage. Ein feiner Regen tropfte hernieder. Die Astern ließen ihre durchnäßten Blüten über den Krug hängen. Ein Regentropfen rollte vom untersten Blatt herab.

"Ach, wie bin ich müde!" seufzte er.
"Woher kommst du?" fragte neugierig das Schwälbchen.
"Oh, ich komme von weit, weit her. Ich komme vom großen Ozean. Dort kam ich zur Welt. Ich bin kein Regentropfen, ich bin eine Träne."
"Eine Träne? Was für eine Träne?" fragte die kleine Schwalbe erregt.
"Eine Mutterträne. Die Geschichte meines Lebens ist kurz. Vor neun Tagen setzte sich eine müde und traurige Schwalbe auf den Mast eines großen Ozeanschiffes. Der Ozean toste wild, es ging ein starker Wind. Mit erstickter Stimme bat die Schwalbe den Wind:
'Bruder Wind, wenn du über die Welt fliegst und nach Bulgarien kommst, so gehe zu meinem armen Kind und sage ihm, es soll sich vor dem schwarzen Kater hüten, der im Garten umherstreicht. Ich habe, als wir fortzogen, vergessen, mein Kind vor ihm zu warnen.'
'Wo ist denn dein Schwalbenkind?' fragte der Wind.
'Ich ließ es in einem zerbrochenen Krug im einem Garten mit lilafarbenen Astern zurück.'
Als die alte Schwalbe dies sprach, viel ich aus ihrem Auge. Der Wind nahm mich mit auf seine Reise über die Welt! Neun Tage waren wir unterwegs, und nun bin ich auf diese Blume gefallen. Ach, bin ich müde, ich möchte herunterfallen und einschlafen!"
Das Herz des lahmen Schwälbchens klopfte zum Zerspringen. Rasch stand es auf, öffnete seinen Schnabel und fing die erschöpfte Mutterträne auf.
"Ich danke dir, Mütterchen!" hauchte es, legte sich in sein Nestchen und schlief ein, von der Träne erwärmt als liege es unter den Fittichen der Mutter.


Angel Karalijteschev - Die kleine Schwalbe
Illustrationen von Ljuben Sidarov
Übersetzung: Lotte Markova
SOFIA-PRESS 1976