Freitag, 15. Oktober 2010

Kein Volk von Dichtern und Denkern

Plädoyer für eine Bildungsidentität
Von Konstantin Sakkas


Die Deutschen feiern sich gerne als "Volk der Dichter und Denker"; doch in kaum einem europäischen Land ist das soziale Klima bildungsfeindlicher als hier. An deutschen Schulen und Universitäten regiert das Diktat der Gleichmacherei.

Lehrer diskriminieren Schüler, die privaten Nachhilfeunterricht nehmen und der Klasse im Lehrstoff voraus sind. Durchschnittliche Studenten werden bei der Vergabe von Stellen und Stipendien offen bevorzugt, weil sie für das Lehrpersonal keine Konkurrenz darstellen. Aber die Hochbegabten werden in die Ecke gedrängt, es sei denn, sie sind Sportler, Musiker oder vielleicht Schauspieler. So sieht die Realität in der "Bildungsrepublik Deutschland" wirklich aus.

Denn wir waren eben nie ein Volk von Dichtern und Denkern, sondern höchstens ein Volk mit überdurchschnittlich vielen Dichtern und Denkern - die sich in Deutschland allerdings (und das vergisst man gerne) nur selten richtig wohl fühlten; man denke an Friedrich den Großen und Goethe, an Heine und Thomas Mann.

Und auch heute träumen unsere Dichter und Denker nicht von Berlin, Hamburg oder München, sondern von England, Frankreich oder den USA. Warum? Weil sie hier wie Aussätzige behandelt werden, und zwar gerade wegen ihrer Bildung! Denn die Mehrheit der Deutschen hat geradezu Angst vor Bildung - auch dies ein Beleg für das deutsche Identitätsproblem.

Niemals war das Niveau der Allgemeinbildung unter Kindern und Berufstätigen miserabler als heute. Doch das ist hausgemacht, und es ist unredlich, dabei nur auf die Immigranten zu schauen. Warum denn wurde das Pflichtfach Latein an den Gymnasien abgeschafft, obwohl man in vielen akademischen Berufen ohne Lateinkenntnisse nur zur zweiten Garde gehört?

Warum beklagen wir uns über Minarette und Kopftücher, wenn zugleich deutsche Eltern auf jede religiös-philosophische Erziehung ihrer Kinder verzichten? Man muss doch wahrlich nicht kirchlich gesinnt sein, um (trotzdem) den Wert einer transzendenten Orientierung zu begreifen - gerade dank der Philosophie der Aufklärung!

Vielleicht beneiden wir ja heimlich Araber und Türken um ihr starkes religiöses und kulturelles Profil, beherrschen doch hierzulande selbst wohlhabende Akademikerkinder weder das Vaterunser noch Schillers Glocke. Wir werfen Muslimen - zu Recht! - den Konservatismus ihrer Familienverbände vor, nehmen aber selber in Kauf, dass unsere Kinder weder zuhause noch in der Schule auch nur die simpelsten Umgangsformen lernen.

Wir fordern - zu Recht! - Integration von Immigranten; aber viele deutsche Eltern sehen ihr Kind schon überfordert, wenn es einmal pro Woche zum Sport geht, im Deutschunterricht ein Gedicht von acht Zeilen auswendig lernen muss und vielleicht ein Instrument spielt. In dieser moralischen und intellektuellen Laschheit liegt der Fehler!

Nur wer eine Identität hat, kann Integration fordern. Eine Bildungsidentität stiftet man aber nicht mit immer neuen teuren Werbekampagnen, sondern indem man vernünftige Lehrpläne aufstellt; indem man von Kindern Leistung fordert, nicht zuletzt im Sozialverhalten; und indem man klare Anforderungen an die Allgemeinbildung setzt, etwa durch verbindliche Aufnahmeprüfungen an den Universitäten.

So würden wir unsere wahre Leitkultur, den westlichen Individualismus, stärken und attraktiv machen. Ohne eine Bildungsidentität aber gerät auch die Identität eines modernen pluralistischen Staates in ernste Gefahr.

Konstantin Sakkas, Jahrgang 1982, schloss 2009 das Studium in den Fächern Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin ab. Er arbeitet seit mehreren Jahren als freier Autor für Presse und Rundfunk.

(c) Deutschlandradio Kultur, Politisches Feuilleton