Dienstag, 1. März 2011

Der Sonnenaufgang

von Alexander Hagen

Wenn ein Mensch stirbt, dann ist es eine Erlösung für ihn. Das sage ich als eine Maxime für jedes Alter, dass eine Seele erreichen kann. Egal ob Neugeborenes, ob Greis. Es ist immer Erlösung! Stirbt ein Menschenkind ungeboren oder kurze Zeit nach seiner Geburt oder erst im Alter, da es zur Schule gehen soll; oder stirbt ein Erwachsener… ist es Erlösung. Das Sterben ist die Krux.
Dem Kind bleibt die Erfahrung all des Leids auf der Welt erspart. Und stirbt ein erwachsener Mensch, so wird sein erlebtes Leid getilgt. Er wird es los – für immer. Und für immer bleibt Ruhe.

Mein Alter umfasst sechsundachtzig Jahre; seit ich in der Stadt Berlin geboren wurde, ist also bald ein ganzes Jahrhundert vergangenen. Ich habe gelebt und geliebt – am meisten die immer wiederkehrenden Sonnaufgänge. Den Morgen eines Tages. Ein jeder Morgen vertrieb die mir die Blindheit der Nacht, die mich oft in tiefste Ängste stürzte.
Doch mehr noch in meinem Leben habe ich gelitten: Ich hatte eine Kindheit, die von den Schlägen meines Vaters dominiert war, wenn ich schlechte Noten nach Hause brachte oder mir der Wassereimer zu Boden fiel. An meinen roten Haaren wurde ich gezogen und manches Mal auch fast geschleift. Mein Geld verdiente ich später als Hure und war am Ende des Tages gezwungen bei den Pennern zu schlafen. Erwischte mich ein Schutzmann, wie ich am Abend meinen Körper den Männern anbot, verschwand ich für Tage und Wochen ins Zuchthaus!

Nun bin ich alt, mein Körper ausgezehrt und kraftlos. Er wurde ausgenutzt von ihnen, vor Jahren – im so genannten „Tausendjährigen Reich“ und man ließ mich gewaltvoll und schmerzend unbarmherzig das angeschwollene, widerwärtige Fleisch spüren.
Von all der erlebten Schmach, in meinem Leben, war das die schlimmste. Heute bin ich in einem sozialistischen Staat und vor zwölf Jahren eine Trümmerfrau gewesen, auch verwaiste Mutter. Das Kind hat mir der Krieg genommen. Ich nehme nun dem Leben: mich. Bin von allen verlassen, bin eingekehrt in einen Gasthof, der ist aus Backsteinen gebaut. Mein Zimmer ist schön, mit braunen Kommoden. Der Ort ist klein und unbedeutend. Niemand wird es merken, wenn ich mein Bett verlasse, weil auch ich nun endlich die Erlösung bekommen werde.

So liege ich nun in meinem Bett, meiner letzten Ruhestätte mit der weißen Wäsche und den blauen Blumen darauf. Das Gift habe ich seit der fernen Nacht mit dem Offizier mit der schwarzen Uniform. Ich habe es ihm aus seiner Jacke genommen, als er erschöpft einschlief. Heute nimmt aller Schmerz ein Ende.
Schön spüre ich es, blicke aus dem Fenster, der Tag beginnt schön. Es bleibt mir – die Erlösung sei mit dem Herzen gegrüßt – der Sonnenaufgang. Der Sonnenauf...


Diese Geschichte ist im März 2008 in Bad Wilsnack, am späten Abend, entstanden. Sie stellt zwar einen Ausdruck meiner Stimmung von damals dar, lässt aber keinen Rückschluss auf meine Gedanken zu. Ich nutzte die depressive Stimmung, um einen fiktiven Monolog einer Frau zu schreiben, die gerade Selbstmord begeht und ihr Leben reflektiert.
Ich kann mich erinnern, dass es eine Wohltat war, nach gut einem Jahr wieder einen Stift in die Hand nehmen zu können und Wörter zu einer Geschichte zusammenzufügen. Die Muse war zurückgekehrt. Dass ich gern schreibe, denke ich, merkt man sehr deutlich.

Der Sonnenaufgang, eignet sich mit diesem Hintergrund sehr gut als erste selbstverfasste Kurzgeschichte, die ich nach dem Neustart hier veröffentliche; auch, wenn sie stilistisch keine klassische Kurzgeschichte ist, denn diese beginnen ja immer "unvermittelt", der Leser gerät also plötzlich in die Handlung.
Alle meine (Kurz-)Geschichten und Romane habe ich unter dem Alter Ego "Alexander Hagen" verfasst, also nicht Wundern.