Montag, 21. März 2011

Auf dem Abstellgleis

Die Deutsche Bahn und ihre 175-jährige Geschichte
Von Stephan Speicher


Im Dezember letzten Jahres konnte die Eisenbahn in Deutschland ein Jubiläum feiern: Vor 175 Jahren, am 7. Dezember 1835, begann der Betrieb auf der Ludwigsbahn zwischen Nürnberg und Fürth. Die Deutsche Bahn hat auch manches unternommen, das Jubiläum zu begehen. Aber hat man was davon bemerkt?

Nun fällt auf einem Bahnhof heute ja ohnedies nicht leicht der Blick auf das, was die Bahn betrifft. Die besten Plätze nimmt die Werbung ein, nach dem Fahrplan muss man suchen. Die Bahn versteckt sich. Seit ihrer Privatisierung - vielleicht ändert es sich unter dem neuen Vorstand gerade wieder, man weiß es noch nicht genau -, seit ihrer Privatisierung hat sie sich nicht mehr als ein Unternehmen verstanden, das Eisenbahnverkehr betreibt und dies mit Gewinn. Sie wurde zu einem Unternehmen, das Gewinnerzielung betreibt und dies nun mal mit der Bahn.

Auf jeder Fahrt mit dem ICE wird einem das unter die Nase gerieben. Der Speisewagen - das Wort erinnerte daran, dass dieses Verkehrsmittel rollt - wurde zum Bordrestaurant auf- oder eher heruntergeputzt. Nach jeder Station wird man aufs Neue "an Bord" begrüßt, als sitze man im Flugzeug. Aber während die Fluggäste tatsächlich zwischen Start und Landung alle gemeinsam unterwegs sind und eine gefühlte Gefahrengemeinschaft bilden - die Sicherheitshinweise machen das ja vor jedem Start klar - ist die stetige Begrüßerei im Zug widersinnig.

Wer von Bochum nach Mannheim fährt, der hat schon viermal den Namen des "Zugchefs" und viermal von den Spezialitäten des "Bordrestaurants" gehört, bevor auch nur Köln erreicht. Es ist eine dauernde Unruhe aus bloßer Wichtigtuerei. Die Schaffner hassen es genauso wie die Fahrgäste. Der Vorstand der DB Fernverkehr AG aber scheint die Prozedur zu lieben. Man kann es hören und greifen, wie wenig er verstanden hat, was es bedeutet, eine Eisenbahn zu betreiben. Die technischen Ausfälle der letzten Jahre hatten ja darin offenbar ihren Grund: in einem Rationalisierungswillen, der über die technischen Erfordernisse schneidig hinwegging.

Und was bedeutete die Bahn nicht einmal! Aufs engste war sie mit der Entstehung des Nationalstaats verknüpft. Sie fuhr ihm voran, verband die Teile des Landes und einigte es - ganz praktisch. Bis zum Aufkommen der Eisenbahn hatte jede deutsche Stadt ihre Ortszeit. Schlug es in Magdeburg 12 Uhr, so war es in Köln noch nicht so weit. Erst die Fahrpläne der Eisenbahn erzwangen die Synchronisierung. Die Bahn trieb die Entstehung größerer Wirtschaftsräume voran, diese politisch, administrativ, rechtlich zu gestalten war eine Hauptaufgabe der Nationalstaaten. Kein Zufall, dass schon 1873, zwei Jahre nach der Reichsgründung, das Reichseisenbahnamt entstand.

Die Bahnhöfe dieser Zeit wurden als Zierden der Städte angelegt wie vormals Kirchen und Rathäuser, sie waren Treffpunkte der Bevölkerung. In der Schwundstufe konnte man das bis in die 1970er Jahre beobachten. Die damals sogenannten Gastarbeiter fanden sich sonntags in den Bahnhofshallen zusammen wie auf einem Forum des industriellen Zeitalters. Noch in Jonathan Franzens Roman "Korrekturen" aus dem Jahr 2001 ist der Niedergang der amerikanischen Eisenbahnen ein Zeichen des Zerfalls der Gesellschaft.

Die Privatisierung der Bahn und der geplante Börsengang sind deshalb interessant, weil dadurch ein Instrument der Vergesellschaftung den individuellen Interessen geöffnet wird. Das ist äußerst unpopulär; ob es in absehbarer Zeit eine Regierung wagen wird, die Bahn wirklich an die Börse zu bringen, ist ungewiss. Ganz so einfach sollten wir Bürger es uns mit der Empörung aber dann auch wieder nicht machen. Als Reisende haben wir die Vorteile der wirtschaftlichen Liberalisierung mit beiden Händen ergriffen. Wo die Bahn in Konkurrenz zu den billigen Fluglinien steht, haben wir uns, preissensibel wie wir sind, gern für den Flug entschieden. Den Rationalisierungsdruck übt nicht allein der Kapitalmarkt aus. So dürfen wir von der Bahn gesellschaftlich nicht mehr erwarten als wir, die Individuen, umgekehrt der Gesellschaft zu geben bereit sind.


Stephan Speicher, Jahrgang 1955, studierte Rechtswissenschaften, Geschichte und Germanistik in Münster und Bonn. Nach einigen Jahren als wissenschaftlicher Angestellter für Neuere Germanistik an der Universität Wuppertal wechselte er in den Journalismus. 1991/92 war er Redakteur des Berliner Tagesspiegels, 1992 - 1996 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 1996 - 2007 bei der Berliner Zeitung. Seit 2008 arbeitet er für die Süddeutsche Zeitung.

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