Mittwoch, 29. Februar 2012

Lese man(n) doch... - Die Rezension Nr. 3

»Wenn man der gesunde Zwillingsbruder eines Schizophrenen ist und sich selbst retten will, hat man das Problem, dass einem hinterher Blut an den Händen klebt – die kleine Unannehmlichkeit, einen toten Doppelgänger zu seinen Füßen liegen zu haben. Und wenn man sowohl an das Überleben des Stärkeren glaubt, als auch überzeugt ist, man müsste seines Bruders Hüter sein – weil man es seiner Mutter auf dem Sterbebett versprochen hat –, dann lebe wohl Schlaf und willkommen Mitternacht. Schnapp dir ein Buch oder ein Bier. Gewöhn dich an David Lettermans auseinanderstehende Zähne, an den Anblick der Schlafzimmerdecke oder an das Zufallesprinzip der natürlichen Auslese. Glaubt einem Gottlosen, der an Schlaflosigkeit leidet. Glaubt dem nicht verrückten Zwilling – dem Burschen, der dem biochemischen Schlamassel entkam.«


Zuhause habe ich eine alte Leseprobe von Früh am Morgen beginnt die Nacht. Sie stammt von einem Buch-Club, der diese und einige andere zu Promotionzwecken herausgab. Mein Bruder hatte sie, und die meines Lieblingsromans, mal für unsere Mutter besorgt. Ich habe mir beide in der zweiten Januarwoche mal zu Gemüte geführt und war ja eigentlich hellauf begeistert. Eine spannende Handlung von einem Zwillingspaar, von dem der eine psychisch nicht ganz einwandfrei zu sein schien. Und dann noch als kleine Zugabe in dem Buch: es spielt unter anderem im Jahr 1990, dem Jahr der Golfkriese. Der kranke Zwilling sprach sehr kritisch über die Geschehnisse. Wie auch schon aufmerksame Zuschauer bei "Ein Herz und eine Seele" bemerkt haben dürften, haben beide Schöpfungen auch in der heutigen Zeit noch erschreckende Aktualität.

So also mein erster Eindruck. Aber weitgefehlt, die Leseprobe verstand es sehr gut, den Leser auf eine falsche Fährte zu locken. Bei weiteren Recherchen - denn so ein Buchkauf will gut überlegt sein (Kostet ja Geld, ne?) - stellte ich fest, dass die bisher vermittelte Plaudertonart sehr viel düstere Züge verbürgt.
Worum geht es also in dem Roman? Es warten viele Baustellen auf. Das Buch beginnt mit Thomas Birdsey, dem eingangs erwähnten Paranoiden. Er betritt die Stadtbücherei von Three Rivers, Connecticut. In einer der hinteren, verlassenen Nischen schlägt er sich seine rechte Hand ab. Sauber, ohne einen Rückzieher. Es war eine religiöse Tat, wird er ein paar Seiten später seinem Zwillingsbruder anvertrauen. Ziel war es, den ersten Irakkrieg zu verhindern.
Der Zwillingsbruder Dominick ist zugleich auch der Ich-Erzähler der Geschichte. In seinen Darlegungen und seinen zahlreichen ironischen, bisweilen auch sarkastischen Kommentaren habe ich viele Ähnlichkeiten zu mir entdeckt. Ich mag auf sich selbst angewandten Zynismus.
Dominick ist gezeichnet von zahlreichen Problemen. Sein Bruder war schon vom Anfang an der schwächere von beiden, wird er uns anvertrauen. Ihn musste Dominick vor ihrem, von Wutausbrüchen geplagten, Stiefvater beschützen. Später, als sich Thomas’ Krankheit immer mehr herauskristallisiert, geht dieses Beschützen weiter, bis in die Gegenwart des Romans. Verbunden mit alle den Problemen und Einschränkungen, die Dominick mal bereitwillig, mal widerwillig hingenommen hat oder auch hinnehmen musste. Ich sage nur Scheidung.
Aber Dominicks Familie besteht aus noch mehr Mitgliedern. Seine krebskranke Mutter, die es ihr ganzes Leben lang nicht fertigbrachte – zum Leidwesen von Dominick – ihm den Namen seines leiblichen Vaters anzuvertrauen. (Als Kind – und auch als Erwachsener – hoffte er immer, eine der Heldengestalten, ein Cowboy aus dem Fernsehen, kommt um ihn, seinen Bruder und seine Mutter vor dem tyrannischen Ray zu retten.) Ray Birdsey ist Dominicks Stiefvater. Er arbeitet bei der Electric Boat Werf, einem der größten Arbeitsgeber der Region. Irgendwie hat er Ray und sich selbst immer als ein Team, seine Mutter und Thomas als das andere Team aufgefasst. Der Autor stellt das mit einer tragischen Schicksalswendung besonders heraus.

Wally Lamb bedient sich mehrerer erzählerischer Werkzeuge. Er rollt die gesamte Geschichte unseres „Helden“ – fast mag man meinen: Antiheld – auf. Und so erzählt er die Kinderzeit in kurzen einfachen Sätzen und steigert sich dann in Zeitsprüngen zu längeren Passagen, dem Geschichtslehrer Dominick Birdsey gerecht werden. Später lässt Dominick die Lebensgeschichte seines Großvaters, dem er seinen Namen verdankt, übersetzten. Es war als ein letztes Geschenk an seine Mutter gedacht, die dem Tod immer näher rückte. Doch erst Jahre später bekommt er die Übersetzung in die Hände, da es einen äußerst unglücklichen Zusammenstoß mit der Übersetzerin gab. Nedra Frank fand gefallen an Dominick, ihr sexuelles Verlangen blieb aber verletzend unbeantwortet.
Obwohl Dominicks Großvater ein selbstgerechter Mistkerl par exellance war, muss ich ihm eins lassen: seine eingebildete Strebsamkeit hat in mir Ehrgeiz geweckt und mir einige gute Noten in der Ausbildung eingebracht. Es ist ein eigenartiger Weg, den das Schicksal da gewählt hat.

Der Professor für Kreatives Schreiben, Wally Lamb, versteht es außerordentlich gut, die menschlichen Abgründe allein durch Worte auszuloten. Und er scheint ebenfalls eine Leidenschaft für runde Angelegenheiten zu haben. Alle Baustellen, die er im Laufe des Romans eröffnet, werden spätestens zum Ende des Romans geschlossen. Durch die mehrmaligen Wechsel zwischen Gegenwartserzählungen und Rückblicken in die Vergangenheit werden die 891 Seiten der Handlung kurzweilig und man hat immer wieder Lust, den schweren Wälzer vom Nachttisch zu nehmen und sich mit jeder Seite eine weitere der zahllosen Facetten der Grundhandlung zu erschließen.
Wo ich am Anfang noch der Meinung war: „Das kann doch keine Familiensaga sein!“, wandelte sich diese Einschätzung spätestens auf den letzten hundert Seiten. Dabei aber fernab vom Rosamunde-Pilcher-Kitsch. Und auch die vielen Figuren stören nicht.

Ich kann dieses finstere und zugleich erfüllende Buch eigentlich nur jedem empfehlen, der das Lesen liebt.

Fernsehen, oder doch lieber Bücher?
Alexander Hagen




Wally Lamb - Früh am Morgen beginnt die Nacht Titel der Originalausgabe: I Know This Much Is True (1998) Aus dem Amerikanischen von Heinrich Koop und Franca Fritz
Verlag: List Tb.
Taschenbuch, 1008 Seiten
ISBN: 3548610277

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