Freitag, 1. April 2011

Lese man(n) doch... - Die Rezension Nr. 2

»Mein Nachname war Salmon, also Lachs, wie der Fisch; Vorname Susie. Ich war vierzehn, als ich am 6. Dezember 1973 ermordet wurde. Auf Zeitungsfotos in den Siebzigern sahen die vermissten Mädchen meistens aus wie ich: hellhäutig und mit mausbraunen Haaren. Das war, bevor Bilder von Kindern aller Hautfarben und Geschlechter nach und nach auf Milchtüten und in der Tagespost auftauchten. Damals glaubten die Leute noch, so etwas geschehe einfach nicht. (...)
Mein Mörder war ein Mann aus unserer Nachbarschaft. Meiner Mutter gefielen seine Blumenrabatten, und mein Vater unterhielt sich mal mit ihm über Düngemittel. Mein Mörder glaubte an altmodische Zutaten wie Eierschalen und Kaffeesatz, die, wie er sagte, seine eigene Mutter schon benutzt hatte. Mein Vater kam lächelnd nach Hause und riss Witze darüber, dass der Garten des Mannes zwar wunderschön sein mochte, aber zum Himmel stinken würde, sobald eine Hitzewelle zuschlüge.«


Gelesen vor ein paar Jahren, in der Mitte des Sekundarstufe II, an einem brandenburgischen Gymnasium, hat mich das Buch eine lange Zeit nicht losgelassen.
Ursprünglich brachte mein Bruder In meinem Himmel mal für unsere Mutter mit. „Das wird dir bestimmt gefallen“, hatte er gesagt. Es gefiel wie nur wenige andere Bücher: Sie zog dieses Buch dem Fernseher vor, und während mein Vater und ich vor der Flimmerkiste hangen und (wahrscheinlich) einen Krimi schauten, saß sie nebenan und las, Seite um Seite.
Wir hatten dann unser eigenes Exemplar irgendwann in der Hausbibliothek, denn das andere Buch stammte von einem Bekannten meines Bruders. So saß dann auch ich Stunde um Stunde zuhause im Sessel und in der Schule auf den unbequemen Stühlen und verschlag in den Pausen ein Wort nach dem anderen.

Mit diesem Buch hatte ich meine erste Annäherung an das Thema Vergewaltigung. Und bei all der Tragik wurde mir gleichfalls eine wunderschöne Sicht auf das Leben gegeben:
Susie, gerade mal 14 Jahre jung, wird eines Tage von ihrem Nachbar entführt und auf einem Feld in einem versteckten Erdloch ermordet. Sie gelangt im Jenseits in 'ihren Himmel', fast wie eine in sich geschlossene Blase, welche aber an unzähligen anderen klebt, wie der Schaum in der Badewanne – und von dort aus beobachtet sie ihre Familie, die nun ohne sie zurecht kommen muss.

Alice Sebolds Geschichte beginnt mit einer ganz wunderbaren Idee: einem Monolog der Erzählerin. Sie erzählt mit den Worten eines Mädchens, das erst vor einiger Zeit in die Pubertät gekommen ist. Das die Kindheit gerade hinter sich lässt und die ersten guten Schritte in die Welt der Erwachsenen setzt.

„Mein Nachname war Salmon, also Lachs, wie der Fisch; Vorname Susie. Ich war vierzehn, als ich am 6. Dezember 1973 ermordet wurde.“ Diese Worten packten mich. Wie manch anderes Buch, was meine Mutter in den letzten Jahren packte, las ich vor ihr schon einige Seiten in dem Buch. Was an dem Zitat auffällt, ist, dass Susie von sich selbst in der Vergangenheit spricht. Man stutzt sofort, ob dieser merkwürdigen Wortwahl. Und kann nicht anders als weiterzulesen.

Susie erzählt von ihrem Himmel, ihrer Betreuerin, die ihr bei der Integration in das „Leben“ nach dem Tot hilft. Doch nicht nur von ihrem Himmel, sondern auch von den 20 Jahren, die vergehen müssen, bevor sich Susies Eltern, Geschwister und Freunde mit ihrem Schicksal abgefunden haben und die Erinnerung an das Mädchen und den Verlust verarbeitet haben.

Aber auch Susie selbst muss verarbeiten. Denn immer wieder wandert ihre Erzählung zu ihrem Mörder. (Auch die Gedanken und das Handeln ihres Vaters drehen sich all die Jahre besonders um ihn.)

Was von Susie blieb, war ihr Ellenbogen, den der Mörder unabsichtlich vergessen hat, nachdem er ihren Körper zerteilt hatte. Der Rest von ihr verschwindet auf einer Müllgrube, durch die Hände ihres Mörder-Nachbarn.

Auszusetzen habe ich eigentlich nichts an der Geschichte des Grubenkindes, denn die Autorin, die selbst einen 20 Jahre andauernden seelischen Heilungsprozess durchgemacht hat – aus eben fast den selben Gründen – beschreibt die Welt ihres Romans eindrucksvoll und vielfältig. Was mich damals aber zutiefst störte, war ein dramaturgischer Einfall von Frau Sebold, der die Poetry dieser Prosa zunichte macht. Im 22., dem vorvorletzten Kapitel gelingt es der Seele Susie Salmons mit ihrem (zu Lebzeiten) besten Freund zu schlafen. Vielleicht ist es meine starre Haltung, was allzu liberalen Umgang mit dem christlichen Jenseitsbild angeht...

Ganz egal, ob Christ, Atheist oder einfach Gelangweilter, dieses Buch ist lesenswert! (Noch mehr sogar, wenn man das vorvorletzte Kapitel einfach überspringt.) Genießen Sie die Erzählung, denken Sie über Susies Impulse nach, während Sie ihren Mörder in die Höllen wünschen.


Alice Sebold - In meinem Himmel (2003)
Titel der Originalausgabe: The Lovely Bones
Manhattan-Verlag (Goldmann Verlag, München)
Gebundene Ausgabe, 380 Seiten
ISBN: 3-442-54552-8

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