Donnerstag, 3. Januar 2013

Die kleine Schwalbe

Für Omi,
Alles Gute zum Geburtstag

Leise nieselt der Herbstregen vom Himmel. Goldgelb erglänzt das Laub. Die Trauben stehen in letzter Reife, und die prallen Beeren beginnen zu platzen. Die Astern neigen ihre Blüten über einen im Gras liegenden zerbrochenen Krug. Im Krug zittert vor Kälte und Kummer ein kleines Schwälbchen. Alle sind schon fortgezogen. Seine beiden Schwesterchen flogen nach dem Süden, und auch seine Mütterlein entschwand nach einem fernen Land. Wer wird es in dieser regenfeuchten Nacht wärmen? Man hatte es hier in diesem zerbrochenen Krug zurückelassen, denn es war lahm und konnte nicht fliegen. Im Sommer war in dem Haus, unter dessen Dach seine Mutter das Nest gebaut hatte, ein Brand ausgebrochen. Während die Schwalbenmutter ihr Küken retten wollte, fiel ein Glutstück ins Nest und versengte den rechten Flügel des Schwälbchens. Das nackte Vögelchen verspürte einen heftigen Schmerz, und als es wieder zu sich kam, lag es in einem anderen Nest: neben ihm saß seine Mutter und ließ das Köpfchen hängen. Das Kleine versuchte seine Schwingen zu bewegen, konnte es jedoch nicht, da der rechte versengte Flügel lahm war.

Der Sommer verging. Die Trauben reiften. In den Gärten blühten bereits die Astern. Die Schwalben versammelten sich auf den Telegraphendrähten. Sie rüsteten sich zur Reise. Sie hockten auf den Drähten, aufgereiht wie ein Rosenkranz.

Eines Tages brachte die Schwalbenmutter ihr lahmes Vögelchen in den Garten und sagte: "Liebes Kind, wir ziehen heute nach dem Süden. Du mußt hier bleiben, weil du nicht fliegen kannst. Da, in diesem Krug habe ich dir ein weiches Nest bereitet. Hier kannst du liegen, und wenn du hungrig wirst, hüpf heraus und such dir etwas Nahrung. Der ganze Garten ist voller Früchte. Im Frühjahr kommen wir wieder zurück."

"Hab Dank, Mütterlein, für deine Sorge um mich", sagte das flügellahme Schwälbchen und steckte sein Köpfchen, um seine Tränen zu verbergen, unter den Flügel der Mutter.
Alle zogen fort. Es folgte graue Tage. Ein feiner Regen tropfte hernieder. Die Astern ließen ihre durchnäßten Blüten über den Krug hängen. Ein Regentropfen rollte vom untersten Blatt herab.

"Ach, wie bin ich müde!" seufzte er.
"Woher kommst du?" fragte neugierig das Schwälbchen.
"Oh, ich komme von weit, weit her. Ich komme vom großen Ozean. Dort kam ich zur Welt. Ich bin kein Regentropfen, ich bin eine Träne."
"Eine Träne? Was für eine Träne?" fragte die kleine Schwalbe erregt.
"Eine Mutterträne. Die Geschichte meines Lebens ist kurz. Vor neun Tagen setzte sich eine müde und traurige Schwalbe auf den Mast eines großen Ozeanschiffes. Der Ozean toste wild, es ging ein starker Wind. Mit erstickter Stimme bat die Schwalbe den Wind:
'Bruder Wind, wenn du über die Welt fliegst und nach Bulgarien kommst, so gehe zu meinem armen Kind und sage ihm, es soll sich vor dem schwarzen Kater hüten, der im Garten umherstreicht. Ich habe, als wir fortzogen, vergessen, mein Kind vor ihm zu warnen.'
'Wo ist denn dein Schwalbenkind?' fragte der Wind.
'Ich ließ es in einem zerbrochenen Krug im einem Garten mit lilafarbenen Astern zurück.'
Als die alte Schwalbe dies sprach, viel ich aus ihrem Auge. Der Wind nahm mich mit auf seine Reise über die Welt! Neun Tage waren wir unterwegs, und nun bin ich auf diese Blume gefallen. Ach, bin ich müde, ich möchte herunterfallen und einschlafen!"
Das Herz des lahmen Schwälbchens klopfte zum Zerspringen. Rasch stand es auf, öffnete seinen Schnabel und fing die erschöpfte Mutterträne auf.
"Ich danke dir, Mütterchen!" hauchte es, legte sich in sein Nestchen und schlief ein, von der Träne erwärmt als liege es unter den Fittichen der Mutter.


Angel Karalijteschev - Die kleine Schwalbe
Illustrationen von Ljuben Sidarov
Übersetzung: Lotte Markova
SOFIA-PRESS 1976

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